Buch: Rote Politiksaga von Uwe Thomas

Dr. Uwe Thomas bricht in seinem kleinen Buch eine Lanze für unsere Demokratie und für den Beruf als Politiker. Diesen Beruf kennt er ganz genau und eine Menge Akteure, bekannte und sehr bekannte. Einige von Ihnen beschreibt Thomas – sehr persönlich, immer interessant, meist zum Schmunzeln. Thomas verbindet mit Klaus P. Friebe eine jahrzehntelange berufliche und persönliche Freundschaft. Auch davon erzählt Thomas in seinem Buch.

Rote Politiksaga

Erinnerungen von Uwe Thomas zu Nutz und Frommen der Enkel Sommer 2012

Inhaltsverzeichnis

  1. Wozu das Ganze …
  2. Willy Brandt und sein Großwesir Ehmke …
  3. Staatssekretär Haunschild und seine Minister …
  4. Hans Matthöfer, eine ehrliche Haut …
  5. Volker Hauff und die Solarenergie …
  6. Andreas von Bülow, eine widersprüchliche Figur …
  7. Heinz Riesenhuber, der Regierungswechsel …
  8. In der Landespolitik mit Björn Engholm …
  9. Begegnung mit Helmut Schmidt …
  10. Oskar Lafontaine, die große Begabung der SPD …
  11. Koautor von Peter Glotz …
  12. Edelgard Bulmahn, ideenreich und klug …
  13. Fazit …

1. Wozu das Ganze

Wenn Ihr, meine Enkel und Enkelinnen erwachsen sein werdet, spielen die Minister und Staatssekretäre, von denen diese Politiksaga berichtet, keine Rolle mehr in der deutschen Politik. Viele leben nicht mehr, mich als Zaungast der Politik vermutlich inbegriffen. Ihr werdet die meisten dieser Politiker nicht einmal vom Hörensagen mehr kennen, mich ausgenommen. Warum also von Politikern der Vergangenheit erzählen? Zumal ich ihre wahren Beweggründe und Lebenskrisen, ihre Hoffnungen, Ängste und Intrigen oft nur erahnen konnte. Weil es mich ärgert, wenn die aufrechten und tapferen unter ihnen, die andere beflügelt haben und die weniger aufrechten und intriganten alle in einen schmutzigen Topf geworfen sehe. Weil ich die ewigen Politikerbeschimpfungen satt habe und möchte, dass wenigstens Ihr Euch nicht daran beteiligt, dass Ihr fleißig zur Wahl gehen werdet und Euch vielleicht sogar selbst in einer Partei engagiert, sobald Ihr erwachsen seid und das Wahlrecht bekommt. Vielleicht auch, weil ich in der DDR aufgewachsen bin. Dort fanden zwar auch Wahlen statt. Dabei bekam man einen Wahlzettel und der Wahlausschuss empfahl seinen Kunden, nicht extra in die Wahlkabine zu gehen, sondern den Zettel gleich in der Urne zu versenken. Mein Vater war Mitglied der SED (durch die Zwangsvereinigung von SPD und KPD) und gehörte im Jahr 1956 einem solchen Wahlausschuss an. Meine Mutter und mein Bruder (ich glaube fast, ich war noch zu jung) ließen sich davon nicht abhalten, gingen in die Wahlkabine, nahmen ihren Stift (in der Kabine gab es keinen) und schrieben über den Wahlzettel ein großes Nein. Das war für meinen Vater unangenehm, denn er erkannte natürlich die Schrift und nur wenige Wahlzettel waren so ausgeschmückt worden. Ich stelle mir vor, wie er hastig versucht hat, weiteres Aufsehen zu vermeiden, schlimm genug für ihn, dass sie in die Kabine gegangen waren. Ich gebe zu, ich kann nicht verstehen, warum gerade in den ostdeutschen Ländern die Wahlbeteiligung so niedrig ist und ich will es auch nicht. Eine solche Chance hätten wir uns in der DDR doch gewünscht. Notfalls kann man ja eine ungültige Stimme abgeben und zum Beispiel die Piratenpartei wählen, falls diese noch so lange lebt.

Ich kann die Politikverdrossenheit nicht nachvollziehen. Jeder kann, anders als in der damaligen DDR, in Deutschland in eine demokratische Partei eintreten, sich dort engagieren und bei Bedarf seine abweichende Meinung zum Besten geben. Man kann, wie wir neuerdings sehen, sogar eine Partei gründen, um Schiffe versenken zu spielen. Es macht bestimmt mehr Spaß als diejenigen denken, die es nie versucht haben. Zwar gibt es in Parteien Eitelkeiten, nicht anders als in einem Hundezüchterverein. Und oft gewinnen die mit der größeren Klappe und nicht die Klugen und Toleranten, zu denen wir in der Familie unserer Natur nach gehören. Die größere Klappe ist nicht nachhaltig, solange es freie Wahlen gibt. Irgendwann kommt es heraus, dass es nicht nur um die größere Klappe geht und das Volk sich traut. Denn, wie kurz vor der Vereinigung einmal auf einer Mauer über die DDR geschrieben stand: „Was macht das Volk, es volkt nicht.“ Man muss das natürlich heimatlich sächsisch aussprechen. Also, liebe Enkelinnen und Enkel, rafft Euch auf, tretet in eine vernünftige Partei ein oder demonstriert notfalls und glaubt daran, dass es gute und schlechte Politik gibt. Setzt Euch dafür ein, dass die bessere Politik gewinnt, auf welcher Ebene auch immer.

Die deutsche Politik hat eine kriminelle Vergangenheit, in der anständige und aufrechte Politiker und Politikerinnen eingesperrt und ermordet worden sind. So selbstverständlich ist es nicht, dass dieses in der Zeit, in der Ihr Euch des Lebens erfreuen dürft, nicht mehr vorkommen kann. Man muss rechtzeitig etwas dafür tun, damit Menschen, die anderen ihr Leben oder auch nur ihre Lebensform streitig machen wollen, gar nicht erst die politische Bühne erklimmen können. Denn dort haben sie nichts verloren. Ich muss Euch allerdings jetzt schon warnen. Es ist nicht immer kurzweilig, was ich zu erzählen habe, wie Ihr wohl inzwischen gemerkt habt und es mag Euch manchmal sogar ziemlich zäh erscheinen. Aber, wie Ihr wisst habe ich habe mit unserer Familiensaga bereits einen Anfang versucht und Blut geleckt. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr das Folgende einfach als eine Art Fortsetzung lesen. Denn auch in der Familiensaga war schon von Politik die Rede, allerdings häufig von einer Politik, die Euch hoffentlich erspart bleiben wird. Ich werde in diesen Erinnerungen auch ein wenig von meiner Zeit in Kiel erzählen. Was mich damals ganz besonders beeindruckt hat, waren die neu in den Landtag eingezogenen Abgeordneten der SPD, darunter viele Frauen. Die meisten von ihnen kamen aus der Kommunalpolitik oder aus Bürgerinitiativen. Sie hatten sich für eine Sache engagiert, ohne auf persönlichen Nutzen zu hoffen. Es waren in den Augen der Profis manches Mal vielleicht naive Diskussionen, aber sie waren von ehrlicher Überzeugung getragen. Ich habe vor allem die Frauen sehr gemocht und sie mögen das auch gespürt haben.

Ich empfehle Euch keine Partei, obwohl ich die alte Tante SPD immer noch für die Beste halte, Irrtümer und seltsame Typen inbegriffen, weil sie immer die Idee der Gleichheit und der Freiheit miteinander verbunden hat. Aber das müsst Ihr selbst entscheiden. Hauptsache, Ihr stellt Euch gegen die Intoleranten und setzt Euch für Gerechtigkeit auf allen Ebenen ein. Mir sind öfter Leute begegnet, welche die Meinung vertraten, dass es schon immer ein Oben und ein Unten gegeben habe und dass das nun mal in der Natur der Menschen verankert sei. Ich habe aber selten einen Menschen getroffen, dem es weniger gut ging und der gleichwohl eine solche Meinung sein eigen nannte. Wie schon Marx oder Engels zu sagen pflegte: Das ökonomische Sein prägt das gesellschaftliche Bewusstsein. Das führt zu der Frage, ob eine Gesellschaft der Gleichen, wäre sie denn möglich, überhaupt wünschenswert ist. Ich glaube daran. Das heißt aber nicht, dass materielle Anreize außer Kraft gesetzt werden sollten, wie es sich die utopischen Sozialisten vorgestellt hatten. Sie lebten allerdings noch in einer Gesellschaft, in der es ein scheinbar dauerhaft vererbbares Oben und Unten gab. Da kann man dann schon auf radikale Ideen verfallen. Zumindest die Chancengleichheit für alle gilt zum Glück inzwischen allgemein als erstrebenswert, aber leider oft nur in der Theorie. Obwohl, selbst ein eingefleischter Konservativer wie Winston Churchill vertrat die Auffassung, dass „a certain corrective against the development of a race of idle rieh“ notwendig sei. In den USA wurde bis 1974 eine Erbschaftssteuer von 77% für Vermögen über 50 Mio Dollar erhoben. Das ist mehr, als Francois Hollande zur Zeit fordert. Und bis 1964 galt dort ein Spitzensteuersatz von 90% für sehr hohe Einkommen. Warum? Es gab einmal in Amerika die Auffassung, dass jeder selbst dafür sorgen sollte, welche materiellen Güter ihm zuwachsen und die Eltern dazu da sind, Ihnen die moralische Kraft und die notwendige Ausbildung dafür mitzugeben, nicht mehr und nicht weniger. Das waren noch Zeiten.

Dahinter stand die Idee, die schon von Goethe so formuliert wurde: „Was Du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Einer der reichsten Männer der Erde, Warren Buffett, meinte: „Man dürfe doch nicht ein Leben lang eine Art Sozialhilfe kassieren, nur weil man der richtigen Gebärmutter entschlüpft ist.“ Und von Andrew Carnegie, einem amerikanischen Stahlmagnaten, wurde schon vor über hundert Jahren ein Satz, der ihm am Ende eines ziemlich rücksichtslosen Kapitalistenlebens eingefallen war, überliefert: „Wer reich stirbt, stirbt ehrlos.“ Er gründete zahlreiche Stiftungen, die heute noch existieren und seinen Namen unsterblich machen. Sollte jemand von Euch einmal aus eigener Kraft reich werden, kann er oder sie sich ja daran orientieren. Patrick hat mit der Fondation Boisette schon einen Anfang gemacht. Sollte er mal viel Geld verdienen, kann er da anknüpfen. Also, es verstößt nach meiner Auffassung gegen das Prinzip der Chancengleichheit, wenn das Vermögen oder die Macht der Eltern über die Chancen ihrer Kinder entscheidet. Leider ist dieser Gedanke heute nicht so lebendig, wie er sein sollte und Ihr könnt ja mal darüber diskutieren, ob Eure Generation diesen Gedanken in unserem Land wieder zu einem kraftvollen Leben erwecken könnte. Ich halte das für eine Grundvoraussetzung einer nachhaltig stabilen Gesellschaft. Das lehrt die Geschichte. Wir hatten in der Schule der DDR, wie Ihr bereits wisst, nur die Geschichte der Revolutionen als Lehrstoff. Die DDR-Oberen hätten rechtzeitig daraus lernen können, haben sie aber nicht. Bis 1989. Und da war es für die Herrschenden zu spät. Aber ist jetzt bei uns schon alles besser? Schaut Euch unser Bildungswesen im vereinigten Deutschland an. Es verstößt allenthalben und gerade in Bayern gegen das Prinzip der Chancengleichheit. Und schon habt Ihr ein Kriterium, falls Ihr ernsthaft darüber nachdenkt, in der Politik aktiv mitzuwirken. Genug gepredigt, sonst fangt Ihr an zu gähnen. Jetzt folgen ein paar Geschichten aus meinem Leben in der Nähe der Politik und teilweise sogar mittendrin.

2. Willy Brandt und sein Großwesir Ehmke

Willy Brandt war unser Idol. Warum war er das? Er war ein tapferer Mann und hat als Emigrant und Kurier in Nazideutschland sein Leben riskiert. Seine Biografie ist lesenswert. In jungen Jahren hat er sich vorübergehend in einer Absplitterung der SPD engagiert, ähnlich wie sein Enkel Lafontaine. Und er ist nach dem Krieg wieder in die SPD zurückgekehrt. Hoffentlich besinnt sich Lafontaine noch und bringt ein paar Linke aus den Neuen Ländern gleich noch mit. Das würde der SPD gut tun, ist aber leider unrealistisch.

Willy Brandt wurde von Adenauer als Brandt alias Frahm tituliert, war ein uneheliches Kind und hat es trotz widriger Umstände geschafft, die Adenauer-Ära zu beenden. Und er hat 1961 als erster das Thema Ökologie aufgegriffen mit seiner Forderung nach einem blauen Himmel über der Ruhr. In diesem Jahr bin ich wegen Willy Brandt in die SPD eingetreten. Sicher nicht, um auf diesem Weg Karriere zu machen. Das hat sich erst später ergeben. Meine Bewunderung für Willy Brandt ergibt sich nicht allein aus seiner Ostpolitik, die er gegen viele Widerstände zusammen mit Egon Bahr formuliert und umgesetzt und die uns am Ende die Wiedervereinigung beschert hat. Er hatte ein Herz für die Jugend und konnte abweichende Meinungen ertragen, ganz im Gegensatz zu Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Dafür mochten wir ihn. Und er glaubte an die Möglichkeit eines menschlichen und sozialen Fortschritts im Gegensatz zu dem listigen, oder soll ich sagen verschlagenen Konrad Adenauer, der zwischen der einfachen und der ganzen Wahrheit zu unterscheiden beliebte. Immerhin hatte der Alte Humor und das machte ihn menschlich. Übrigens glaubte Willy Brandt vor allem an eine Forschungs- und Bildungspolitik als Instrument dieses Fortschritts. Die jungen SPD-Abgeordneten drängten damals in den Bildungs- und Forschungsausschuss des Deutschen Bundestages, ganz im Gegensatz zu heute. Persönlich habe ich ihn leider nur kennengelernt, als er nach seinem Rücktritt in einer kleinen Runde Zigaretten schnorrte, da ihm das Rauchen verboten worden war. Ich habe damals noch geraucht.

Sein Großwesir und Kanzleramtsminister Horst Ehmke war der erste Politiker, den ich näher kennengelernt habe. Denn als ich von Reimut Jochimsen für die Planungsabteilung im Bundeskanzleramt angeheuert worden war, ergab es sich, dass ich in einer kleinen Gruppe die Gliederung der Bundesregierung für die Legislaturperiode nach der Wahl 1972 mit diskutieren durfte. Ihr müsst Euch das so vorstellen. Das Kanzleramt ist keine große Behörde, aber es hat natürlich viel Einfluss, da der Bundeskanzler in der Regierung die Richtlinien der Politik bestimmt. Chef seiner Behörde ist der Kanzleramtsminister, also damals Ehmke. Und unter ihm gab und gibt es mehrere Abteilungen für bestimmte Politikbereiche. Willy Brandt hatte außerdem eine Planungsabteilung eingerichtet, die von Professor Jochimsen geführt wurde und langfristige Strategien und sogar Visionen entwickeln sollte. Das war neu und nicht unumstritten. Aber es hat Spaß gemacht, dort zu arbeiten. Die große Politik wurde natürlich dort nicht gemacht. Große Politik ist anscheinend immer Tagespolitik. Visionen sind im täglichen Kampf um die Macht weniger gefragt.

Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, meinte Helmut Schmidt. Er hatte keine, die waren ihm wohl im Krieg und an der Front ausgetrieben worden.   Helmut   Schmidt   war   der   zweitmächtigste   Mann   in   der Regierung. Sein Spitzname war Schmidt-Schnauze und er war gefürchtet, bei Freunden wie Gegnern. Langweilig allerdings war er nie. Ein bekannter Kabarettist meinte: Früher, wenn eine Bundestagsdebatte im Fernsehen übertragen wurde, ließ man das Essen stehen. Heute fängt man bei einer solchen Übertragung an zu kochen. Alter Finne. Es war eben früher alles besser.

Von Helmut Schmidt wurde die Planungsabteilung als Ehmkes Kinderdampfmaschine bezeichnet. Er war Ehmke in tiefer Abneigung verbunden. Vielleicht spielte dabei auch eine Rolle, dass Ehmke, bevor er in die Politik ging, ein bekannter Professor in Freiburg war. Ihm ist alles zugeflogen. Schmidt musste sich alles erkämpfen. Das prägt. Allerdings, so ganz unrecht hatte Schmidt vielleicht nicht. Die Kinderdampfmaschine hatte viele junge Leute an Bord, die keine Scheu hatten, sich in die Arbeit der Ministerien einzumischen, auch wenn sie diese womöglich nur halb verstanden. Das mochten die Ministerien nicht, aber uns hat es begeistert. So entsteht Neues.

Mein Job war es, nach kurzer Einarbeitung das Bundeskanzleramt in einer interministeriellen Projektgruppe Regierungs- und Verwaltungsreform zu vertreten, und zwar, was mich angeht, ohne die geringste Ahnung von Behördenabläufen. Dabei habe ich dann viel über das Funktionieren der Regierung und die Macht der Beamten gelernt, was mir später möglicherweise zugute gekommen ist. Beamte, so sagt man, fallen öfter um, aber sie fallen gelegentlich ganz unerwartet quer und vor allem: sie überleben in der Regel die Politiker. Anschließend war ich dann in einer kleinen Arbeitsgruppe, die sich mit der Organisation der Regierung nach den bevorstehenden Wahlen beschäftigte und direkt an Ehmke berichtete. Den Organisationserlass, der die Neugliederung der Ministerien nach der gewonnen Wahl regelte, habe ich wesentlich mit entworfen (wenn auch nicht inhaltlich) und mich dabei enorm wichtig gefühlt. Ich hatte mich in der Arbeitsgruppe unter anderem dafür eingesetzt, das Forschungsministerium und das Postministerium unter eine einheitliche Leitung zu stellen. Das klingt wie eine Schnapsidee. Darauf wären nicht einmal die Piraten gekommen. Aber der einfache Gedanke dahinter war, die enormen Ressourcen des Postministeriums auf dem Gebiet des Femmeldewesens zu nutzen, um in Deutschland ein neues Zeitalter der Information und Kommunikation zu befördern. Die großartigen Leistungen der Bell Laboratories wollten wir in Deutschland nachahmen und aus den Fernmeldegebühren finanzieren.

Und dann ergab es sich tatsächlich, dass Ehmke nach der Wahl ein solches Doppelministerium zu führen hatte. Eigentlich wollte er Kanzleramtsminister bleiben, aber Helmut Schmidt hat ihn mit allen Mitteln aus dieser Schlüsselstellung zu verdrängen versucht und Willy Brandt hat am Ende nachgegeben. Und da das nun meine Schnapsidee war, hat Ehmke mich in sein neues Ministerium mitgenommen. Das hat seinem alteingesessenen Staatssekretär Hans-Hilger Haunschild im Forschungsministerium nicht gefallen. Quereinsteiger waren nicht beliebt, es sei denn von seinen Gnaden. Mit Haunschild habe ich mich über die Jahre immer wieder gestritten, so wie ein mutiger Dackel mit einem Löwen. Beinahe hätte der mich totgebissen. Zumindest hat er damit gedroht. Darauf komme ich noch. Wir wollten das Postministerium in ein öffentliches Unternehmen umwandeln, natürlich unter der Fachaufsicht des Forschungsministeriums, um eine enge Zusammenarbeit zu gewährleisten. Es gab sogar einen fertigen Gesetzentwurf. Aber der ist dann an der FDP gescheitert. Sie fanden, der Aufsichtsrat des Unternehmens sei zu gewerkschaftslastig angelegt. Das war dumm von ihnen, aber sie hielten halt nichts von Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Das war ihr Credo und ist es immer noch. Dabei hatte der Aufsichtsrat in unserer Konstruktion gar nicht so viel zu sagen. Wenn sie das gewusst hätten. Später sind dann aus dem Ministerium drei privatrechtlich organisierte Unternehmen geworden, die mehrheitlich im Staatsbesitz verblieben. Die unmittelbare Folge war, dass die Führungsstrukturen an der Spitze der drei Unternehmen, also die Generaldirektionen, zusammen bald fünfmal so groß waren, wie das Ministerium und die drei Vorstandsvorsitzenden fünfmal soviel verdienten, wie ein Minister. Ich fürchte, sie leisteten nicht fünfmal so viel, aber das merkt man nicht sofort.

Zurück zum Doppelminister Ehmke. Er hatte im Postministerium auch einen Staatssekretär namens Kurt Gscheidle. Dieser dachte bei der ersten Visite seines neuen Ministers es ganz schlau anzufangen und stellte auf dem Sitzungstisch eine größere Anzahl Whiskyflaschen bereit, um zu demonstrieren, dass er über wesentlich mehr Ressourcen verfügte als das Forschungsministerium. Ich hatte Ehmke begleitet und war ganz perplex über so viel Chuzpe. Aber der ließ ungerührt als erstes die Flaschen entfernen und hatte auf diese Weise, glaube ich, gleich einen nachhaltigen Eindruck von seinem zweiten Staatssekretär gewonnen. Von Kurt Gscheidle, gelernter Feinmechaniker und REFA-Ingenieur und zeitweilig Abgeordneter des Deutschen Bundestags, bevor er beamteter Staatssekretär wurde, gibt es übrigens eine peinliche Geschichte, die ich nicht verschweigen will, weil ich Klatsch liebe. Er glänzte doch tatsächlich in den Stunden vor der Bundespräsidentenwahl 1969 durch Abwesenheit, als die Mannschaft der SPD noch einmal durchgezählt wurde, obwohl es damals auf jede Stimme ankam, um den ersten SPD-Bundespräsidenten in den Sattel zu heben. Man fand ihn schließlich bewusstlos mit einer Alkoholfahne im Berliner Rotlichtmilieu.

Das hat der SPD-Zuchtmeister Wehner ihm nie vergessen, auch wenn sie ihn rechtzeitig ausnüchtern konnten. Aber zunächst wurde Gscheidle, wie gesagt, Staatssekretär, bevor er nach Ehmke dann selbst (nach dem Rücktritt von Willy Brandt) im Kabinett von Helmut Schmidt Postminister wurde. Gscheidle war zwar nicht als Staatssekretär, aber als Minister sehr erfolgreich und das kam so: Er überzeugte noch als Staatssekretär seinen Minister Ehmke von der Notwendigkeit einer Erhöhung der Fernmeldegebühren. Das kam diesem teuer zu stehen, denn es war ausgesprochen unpopulär und die Bildzeitung wetterte ausgiebig gegen Ehmke. Tatsächlich war es auch vollkommen überflüssig, denn in der Bundesrepublik nahm damals die Zahl der Telefonanschlüsse rasant zu und je mehr Menschen miteinander telefonisch Kontakt aufnehmen konnten, desto rentabler wurde das Geschäft der Post im Bereich Fernmeldewesen. Dieses Phänomen zeigte sich allerdings erst in voller Schönheit, als Gscheidle 1974 Postminister im Kabinett von Helmut Schmidt geworden war. Der arme Ehmke hat davon nicht mehr profitieren können. Gscheidle hingegen galt in der Öffentlichkeit als erfolgreicher Minister. So ist das in der Politik, man muss im richtigen Moment am richtigen Ort erscheinen. So erging es mir in Kiel und auch das werde ich später erzählen

Noch eine Rückblende. Ehmke hatte von Willy Brandt den Auftrag, die Regierungsbildung 1972 mit dem Koalitionspartner FDP auszuhandeln. Zusammen mit Hansvolker Ziegler haben wir Ehmke assistiert und einige Nächte im alten Bundeskanzleramt zugebracht (Unsere Fahrräder standen vor dem Eingang). Der Counterpart von Ehmke war Hans-Dietrich Genscher, der seinen Büroleiter Kinkel als Assistent dabei hatte. Kinkel wurde nach einem Zwischenstopp im Bundesnachrichtendienst später Nachfolger von Genscher als Außenminister. Sein Markenzeichen bei unseren Gesprächen über die Regierungsbildung war eine dicke Aktentasche, aus der er geschickt im richtigen Moment wichtige Akten zu ziehen verstand. Ich glaube fast, Genscher war schlauer als Ehmke, und Kinkel schlauer als Hansvolker und ich. Jedenfalls hat Genscher seinem Verhandlungspartner damals einen Nachwuchspolitiker der FDP namens Friderichs (sogar gegen den Widerstand in seiner eigenen Partei) als Wirtschaftsminister untergejubelt, sehr zur Überraschung von Willy Brandt. Der künftige Bundesminister Friderichs kam eines Abends mit seiner Aktentasche ganz schüchtern in unser Sitzungszimmer und fragte, wo er sich bis zum Ende der Verhandlungen aufhalten könne. Wir haben ihm ein Zimmer gegeben, statt ihn fortzuschicken. Später war er nicht mehr schüchtern und ziemlich rechts. Er hat auch unsere Pläne zur Ausgliederung des Postministeriums erfolgreich hintertrieben.

Für Ehmke habe ich gleich zu Anfang der Legislaturperiode Anfang 1973 eine Grundsatzrede zur Zukunft der Nachrichtentechnologien verfasst und ihm nahegelegt, eine entsprechende Kommission zu berufen, die den schwerfälligen Namen „Kommission zum Ausbau des Technischen Kommunikationssystems“ (KtK) erhielt. Den Namen haben wir uns in der Wohnung von Hansvolker Ziegler ausgedacht, nach Genuss von ausreichenden Mengen Wein vermute ich. Der Geist des Weines bestärkte uns in der Vermutung, dass nicht nur die elektronische Kommunikation, sondern auch die Technik von Gutenberg vor einer Erneuerung stand. Bald kann jeder drucken, meinten wir. Und das ist ja auch eingetreten. Daher also der schwerfällige Name. Die Frage war, wer den Vorsitz in einer solchen Kommission übernehmen sollte. Ich hatte eine Idee, die ich aber erst einmal für mich behalten habe, leider eine schlechte Angewohnheit von mir. Ich hatte einen Professor aus München namens Witte im Auge, mit dem ich mich, wie ich noch genau erinnere, im Schloss Montabaur getroffen habe. Er hat zugesagt und Ehmke hat davon erfahren. Daraufhin wurde ich in sein Büro bestellt und er hat mich ob meiner Eigenmächtigkeit kräftig beschimpft.

Ihr sollt nicht denken, dass ich eiskalt und wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel in solche Gespräche gegangen bin. Denn erstens hatte er die Macht und ich war ein kleines Licht. Und zweitens war ich mir auch nicht so sicher, dass meine Wahl die beste aller möglichen war. Aber hier gebe ich Euch einen Rat. Man muss mit solchen Beschimpfungen umgehen können, dem Schimpfenden immer tief in die Augen schauen und auf Gegenrede verzichten. Das wirkt immer. Und man muss warten können. Hätte ich ihn gefragt, wen er denn im Auge habe, so hätte ich seinen Zorn nur gesteigert, denn er hatte jedenfalls auch keinen besseren Kandidaten, und so ist er schließlich meinem Vorschlag gefolgt. Witte hat übrigens später den Münchner Kreis ins Leben gerufen. Patrick kennt diese Organisation, denn sie existiert heute noch und ich bin darin eine Karteileiche, die immer wieder mit Einladungen versorgt wird. Nu ja, wir haben dann über die Besetzung der Kommission diskutiert und unter anderem einen jungen Nachwuchspolitiker der SPD gesucht, der über naturwissenschaftliche Kenntnisse verfugt. Solche Leute waren selten. Dabei kamen wir schließlich auf den damaligen Oberbürgermeister von Saarbrücken, der Physik studiert und bald danach diesen Posten erkämpft hatte. Physiker, das ist doch ein vernünftiges Studium, bei dem man seinen Verstand trainiert. Man kann damit Bundeskanzlerin werden. Sein Name übrigens: Oskar Lafontaine. Später wurde er erst einmal Ministerpräsident und von ihm werde ich in einem anderen Kapitel noch kurz einiges berichten.

Ich weiß noch, dass Lafontaine damals wie heute gerne über französische Weine sprach und ich auf Grund meiner Zeit in Paris mitzuhalten versuchte. Sein Lieblingswein, erzählte er mir während einer Sitzung, sei Pouilly Fume während ich über einen erstklassigen Rotwein aus dem Medoc namens Chateau Branaire Duluc Ducru sinnierte. Ich habe vielleicht ein wenig angegeben, aber diesen Wein hatten wir tatsächlich häufig bei Nicolas in Paris gekauft. Es gibt ihn noch und er ist inzwischen unerschwinglich geworden. Ehmke hatte damals gerade wieder geheiratet, eine tchechische Wasserbalispielerin, die nicht nur Sportlerin in der Nationalmannschaft der Tchechoslowakei gewesen sondern noch dazu sehr hübsch war. Sie pflegte ihn im hauseigenen Schwimmbad ziemlich zu strapazieren und kleidete sich gern altmodisch. Ich erinnere mich noch, wie wir in Ehmkes Garten unter Obstbäumen heftig diskutierten und sie wie ein überirdisches Wesen im langen weißen Kleid heran geschwebt kam, was nicht nur mich sprachlos machte. Ich muss sagen, Ehmke, der Nachrichtendienste kannte, hat mir imponiert. Denn als ein Spion im Kanzleramt namens Guillaume schließlich  aufflog,  kam  heraus,  dass dieser  1957  aus  der DDR eingeschleust worden war. Ich bin ja auch in diesem Jahr rübergemacht aus der DDR und was hat Ehmke dazu gesagt? Man dürfe nun nicht jeden DDR-Flüchtling als möglichen Spion verdächtigen. Das bezog sich, so hoffte ich, auch auf mich und er hatte dafür bei mir einen Stein im Brett. Ehmke hat damals die Modernisierung der Volkswirtschaft als wichtige Aufgabe in den Mittelpunkt seiner beiden Ministerien gestellt und seine Nachfolger im Forschungsministerium, von denen noch die Rede sein wird, haben das fortgeführt. Ich glaube, wir hatten damals die Chance, in Deutschland etwas zu bewegen und wir haben sie wahrhaftig genutzt, sage ich heute in aller Bescheidenheit. Davon werde ich später ein wenig erzählen, obwohl das vielleicht nur für Insider ein interessantes Thema ist. Eigentlich sollte ich in erster Linie bei den Menschen bleiben, die ich erlebt habe.

Ich will nur kurz von den Haushaltsverhandlungen im Ministerium erzählen, weil es ein Licht auf meinen damals noch ungebrochenen Glauben an das Gute und Wahre in der Politik wirft. Es geht im Forschungsministerium einmal jährlich darum, welcher Haushaltstitel mit wie viel Geld ausgestattet werden soll. Dafür gibt es zwei Strategien. Entweder man fordert doppelt soviel, wie man zu brauchen meint und kümmert sich nicht weiter um die Begründung. Dann bekommt man die Hälfte dessen, was man gefordert hat. Oder man bemüht sich um eine gute Begründung und fordert genau so viel, wie man für nötig hält. Ein Konkurrent von mir im Ministerium hat stets die erste Strategie gewählt und ich genau einmal die zweite. Ratet einmal, wer damals am Ende sein Ziel erreicht hat? Nu, ich war es nicht. Das hat meinen Mitarbeitern nicht gefallen und ich habe dazugelemt. Man kann nicht erwarten, dass die besser Bezahlten auch besser bewerten können.

Mit dieser strategischen Erwägung verlasse ich das Kapitel und erzähle nur zum Schluss noch, wie Ehmke lange nach seinem Ausscheiden mir einen Witz erzählt hat, der auf meine Kosten ging. Ich war von Heide Simonis in Kiel ja ebenfalls ausgeschieden worden und hatte mich gefreut, an einem Buch arbeiten zu dürfen, welches ich „Dichtung und Wahrheit in der Verkehrspolitik“ genannt habe. Ich habe noch ein paar Exemplare übrig, die ich gern verschenke. Dafür, dass es 1995 geschrieben worden ist, mag es in manchen Punkten überraschend aktuell klingen. Also, Ehmke fragte mich, was ich denn nun so mache. Ich hatte keine Lust, ihm von dem halbfertigen Buch zu erzählen und meinte, ich sei derzeit als Berater tätig. Daraufhin erzählte er, da seien, um die Viehzucht in Afrika zu verbessern, ein paar deutsche Bullen in ein afrikanisches Land gebracht worden. Die Bullen hätten sich die afrikanischen Kühe angeschaut, aber weiter keinen Mucks gemacht. Woraufhin sie von dem Entwicklungshelfer angebrüllt worden seien: „He, Ihr seid hier nicht als Berater da.“ Leider ist mir damals vor Schreck keine gute Replik eingefallen und der Ehmke hat sich köstlich amüsiert. Er hatte übrigens ein gewisses Verständnis für mein Ausscheiden aus der Landesregierung von Schleswig-Holstein. War es ihm doch, wie gesagt, ähnlich ergangen, als Helmut Schmidt Bundeskanzler wurde. Obwohl Ehmke erfolgreich war und gute Minister knapp waren, berief ihn der neue Bundeskanzler nicht in sein Kabinett und ist diesem Entschluss treu geblieben, denn für beide war kein Platz im gleichen Boot. Den Verlust von Macht, Dienstwagen und Entourage hat Ehmke wohl verschmerzt, aber dass er nun selbst ans Telefon gehen musste, wenn er angerufen wurde, dass hat ihm wohl doch ein wenig zugesetzt. Der weise König Salomo war, wie man in der Bibel nachlesen kann, allerdings weit unbarmherziger (1. Buch Könige Kapitel 2, Vers 23-25). Er ließ nach der Thronbesteigung seinen Halbbruder und möglichen Konkurrenten Adonia erschlagen, obwohl der ihn nur um die letzte Mätresse seines verstorbenen Vaters König David gebeten hatte. Zum Glück für Ehmke, der ebenfalls, genau wie Schmidt, die schönen Frauen liebte, ist das heute selbst unter Parteifreunden nicht mehr üblich.

3. Staatssekretär Haunschild und seine Minister

Haunschild hat über viele Jahre als graue Eminenz das Forschungsministerium geführt und darauf geachtet, dass vor allem Leute, die ihm loyal zur Seite standen, befördert wurden. Ich erinnere mich noch, wie er bei der Einführung von Riesenhuber als Minister diesem klarmachte, dass keiner seiner Vorgänger länger als 2 Jahre durchgehalten habe. Das sei so eine Art Gesetz im Forschungsministerium. Die Beamten lachten pflichtschuldig und Riesenhuber machte ein, wie soll ich sagen, verschlossenes Gesicht. Einige Jahre später hat er Haunschild in den vorzeitigen Ruhestand geschickt. Haunschild hat mich übrigens kurz vor seinem Ausscheiden zu einem Vieraugengespräch gebeten. Sein Anliegen war, dass wir doch enger zusammenarbeiten sollten. Er habe mir zu Unrecht misstraut. Und mein Engagement   in   der   Förderung   von   Unternehmen   in   modernen Technologien sei richtig gewesen. Das kann ihm nicht leicht gefallen sein und es hat mich beeindruckt, denn ich habe ihm natürlich geglaubt. Wenn ich im Folgenden den Staatssekretär Haunschild in einem ungünstigen Licht erscheinen lasse, soll das nicht heißen, dass er einfältig oder unfähig gewesen sei. Ganz im Gegenteil. Er war ein kluger Mann mit viel Urteilsvermögen, vor allem wenn es um Personalfragen ging. Seine Personalentscheidungen haben die deutsche Forschung in vielen Fällen positiv geprägt. Und er war ein charmanter Mann, in dessen Vorzimmer nach meiner Wahrnehmung nicht nur die hübschesten, sondern auch die klügsten Sekretärinnen des Ministeriums saßen. Eine davon saß später in meinem Vorzimmer.

Aber er war eben ein Kind seiner Zeit. Als er 1957 als 29 Jahre junger Jurist in das Atomministerium eintrat (dem Vorläufer des späteren Forschungsministeriums) geriet er in ein Milieu, das von seinem ersten Minister Franz-Josef Strauß geprägt worden war. Es war Strauß, der später einmal den Atomwaffensperrvertrag als „Super-Versailles kosmischen Ausmaßes“ bezeichnet hat. Für Strauß war die Kerntechnik von strategischer Bedeutung für die Verteidigung der Bundesrepublik und er hat kein Hehl daraus gemacht, dass er Atomwaffen für die Bundeswehr gewünscht hätte. Dazu passt dann auch sein Engagement in der Weltraumtechnik, später auch sein Interesse an der Entwicklung von Großrechnern bei Siemens und der AEG. Die wichtigsten Repräsentanten der deutschen Großindustrie waren häufig Anhänger Hitlers gewesen und mit Ihnen durfte der junge Nachwuchsbeamte Haunschild bald engen Umgang pflegen. Ihr Interesse war allerdings weniger darauf gerichtet, Deutschland wieder zu einer militärischen Größe zu führen. Dazu waren sie zu sehr ernüchtert und Strauß war ihnen wohl manches Mal eher unheimlich in seinem Größenwahn. Sie setzten vielmehr auf wirtschaftliche Größe und dazu gehörte als Grundlage die Forschung in ihren Unternehmen, sowie internationale Zusammenarbeit, soweit sie dem Export deutscher Produkte diente. Mein Konflikt mit Haunschild entzündete sich insbesondere daran, dass dieser ein glühender Befürworter der Kernenergie war. Und zwar nicht nur in Deutschland sondern weltweit. Er diente diese Technik auch mehreren Schwellenländern an, wie Brasilien, China, Indien und Pakistan, sehr zur Freude von Siemens und zum Missvergnügen der USA, die sich bemühten, die Proliferation dieser gefährlichen Technik weltweit einzudämmen.  Sie  haben  schließlich  die  Bewerbung  von Haunschild für den Posten des Präsidenten der Internationalen Atomaufsichtsbehörde in Wien hintertrieben.

Ich habe Haunschild später einmal auf einer gemeinsamen Dienstreise nach Japan gefragt, warum er der weltweiten Proliferation der Kernenergie so positiv gegenübergestanden habe. Er meinte, dass Länder, die über diese Technologie verfügten, von selbst zu einer vernünftigen Staatsführung finden würden. Wenn er doch recht behalten hätte. Anscheinend hat er auch den Erfinder der pakistanischen Atombombe Abdul Khan unterstützt, der an der TU Berlin studiert hatte und später bei der deutsch-niederländisch-britischen Firma URENCO die Urananreichungstechnik mit entwickeln konnte. Und Haunschild hat als Aufsichtsratsvorsitzender des damaligen Kernforschungszentrums Karlsruhe auch dessen Zusammenarbeit mit Südafrika unterstützt und damit die Ambitionen von Südafrika, eine Atombombe zu entwickeln, positiv begleitet. Sie haben einige gebaut, mussten aber dann auf Druck der USA wieder davon Abstand nehmen und sie verschrotten. Ich habe selbst einmal mit der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kerntechnik zu tun bekommen, und zwar wunderlicherweise in China. Ich hatte China mit einer Delegation besucht, die über eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China auf dem Gebiet der Mikroelektronik verhandelt hat. Noch während meines Aufenthalts in China erhielt ich einen Anruf von Haunschild, in dem er mich bat, an Gesprächen und einem Essen einer Delegation von Siemens als deutscher Regierungsvertreter teilzunehmen. Das konnte ich schlecht ablehnen und das Essen war auch ganz vorzüglich. Es wurden 50 Gänge serviert und kaum hatte man einen Gang etwas genauer in Augenschein genommen wurde er schon wieder eingesammelt und der nächste serviert.

Ich habe allerdings in einer Rede, die mir auferlegt worden war, freimütig auf den Atomwaffensperrvertrag hingewiesen. China als Atommacht müsse bei einer Zusammenarbeit mit Deutschland diesen beachten und entsprechende Inspektionen erlauben. Das stand nicht im Manuskript und war so gar nicht im Sinne der anwesenden deutschen Industrie. Sie haben sich nach der Rückkehr postwendend bei Haunschild beschwert. Aber da war nun nicht viel zu machen, denn ich hatte mich, wenn auch mit ein wenig Angst in tiefster Seele, nur im Rahmen der geltenden Rechtslage verhalten. Es ist bemerkenswert, dass ein Mann wie Haunschild gleichwohl die Regierungszeit von Helmut Schmidt unbeschadet überstanden hat (Ehmke wollte ihn entlassen, wurde aber dann selbst entlassen). Er hat dann noch einige Jahre in der Regierungszeit von Helmut Kohl bei Riesenhuber Staatssekretär bleiben können, bis der ihn schließlich entlassen durfte. Sein Mentor und Beschützer war wohl vor allem der langjährige FDP-Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff. Und das hatte einen Grund.

Im Laufe der Jahre war es zu einem fortlaufenden Konflikt zwischen dem Forschungs- und dem Wirtschaftsministerium gekommen. Dafür waren vor allem Programme in meiner Unterabteilung verantwortlich. Wir wollten die Modernisierung der deutschen Wirtschaft durch Forschungsund Technologieförderung vorantreiben und ich hatte am Ende der Regierung Schmidt ein Jahresbudget von fast 1 Mrd DM für zahlreich 3 Programme zur Verfügung. Diese Art der Wirtschaftsförderung war dem Ordoliberalen Graf Lambsdorff ein Dom im Auge, lange Zeit unterstützt von Haunschild, der sich aber bei den vier aufeinanderfolgenden SPD-Ministem Ehmke, Matthöfer, Hauff und von Bülow zumindest bei diesem Thema nicht durchzusetzen vermochte. Die Beamten des Wirtschaftsministeriums hatten zum Teil recht kuriose Vorstellungen von neuen Technologien. Einer von ihnen hielt einmal bei einer Besprechung einen kleinen Taschenrechner hoch und meinte, wozu wir denn immer noch die Mikroelektronik mit viel Geld förderten. Der Taschenrechner sei doch schon klein genug.

Ich könnte noch mehr Stories über Haunschild erzählen, darunter einigen Klatsch, aber nur eine will ich noch anfügen. Das Kemforschungszentrum Jülich mit immerhin 4000 Beschäftigten, dessen Aufsichtsratsvorsitzender Haunschild war (später bin ich ihm auch in diesem Amt nachgefolgt), sollte nach meiner Auffassung zunehmend Forschung auf dem Gebiet der Mikroelektronik in sein Programm aufnehmen. Als es darum ging, für dieses Zentrum einen neuen Chef zu gewinnen, habe ich mit Professor Heuberger einen renommierten Institutsleiter aus der Fraunhofergesellschaft vorgeschlagen. Dem Aufsichtsrat des Kernforschungszentrums gehörten auch zwei Minister aus Nordrhein-Westfalen an. Einen der beiden kannte ich gut. Es war mein früherer Chef Jochimsen, damals, wie schon erzählt, Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und inzwischen zum Wirtschaftsminister in Nordrhein-Westfalen berufen. Also habe ich ihn angerufen und ihm vorgeschlagen, den Kandidaten von Haunschild für das Amt abzulehnen und meinen Kandidaten zu unterstützen. Das war natürlich illoyal und hätte mir an seiner Stelle auch nicht gefallen, aber es war nach meiner Ansicht sachlich gerechtfertigt. Daraufhin hat Haunschild mich angerufen und mir gedroht, mich rauszuwerfen. An diesen Anruf erinnere ich mich noch sehr genau, denn das war möglich und ich machte mir natürlich Sorgen. Ich hatte mich aus Prinzip nicht verbeamten lassen, sondern war Angestellter geblieben, durchaus eine Ausnahme in einem Ministerium. Angestellten kann man kündigen, Beamten nicht.

Damals war Riesenhuber schon Minister und der hat das abgelehnt, obwohl ich nicht wie er CDU-Mitglied war, sondern aus seiner Sicht bei der falschen Partei war. Die Personalentscheidung von Haunschild in Jülich hat er gleichwohl mitgetragen. Der Kandidat von Haunschild, Professor Treusch, war übrigens sehr viel besser, als ich dachte. Da muss ich ihm Abbitte tun, umso mehr, als ich später als Staatssekretär bei der Auswahl von Führungspositionen in der öffentlichen Forschung nicht immer eine glückliche Hand hatte. Das Ganze hatte übrigens ein Nachspiel, denn wir haben daraufhin beschlossen, ein ganz neues Institut für Mikroelektronik gemeinsam mit der deutschen einschlägigen Industrie zu gründen. Da kam uns ein fleißiger CDU-Abgeordneter namens Austermann gerade recht. Der war Mitglied im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags und hatte als Berichterstatter für den Forschungshaushalt erheblichen Einfluss. Damit ihr wisst, was das ist: Jedem Ministerium ist ein Mitglied des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags zugeordnet. Er berichtet jedes Jahr über den Haushalt des ihm zugeordneten Ministeriums und ihm wird im Parlament selten widersprochen. Die Mitglieder im Haushaltsausschuss haben sehr viel Macht. Allerdings, je größer die Summe, um die es geht, umso weniger wird darüber diskutiert. Gefährlich wird es, wie ich später noch an einem Beispiel zeigen werde, wenn es um kleine Beträge mit hohem Symbolcharakter geht. Bei großen Summen kommen Lobbyisten ins Spiel und mobilisieren ihre Truppen. Wir haben Austermann auf dem kurzen Dienstweg vorgeschlagen, dieses Institut in Schleswig-Holstein zu etablieren. Und so kam ich das erste Mal in dieses schöne Land, nicht ahnend, dass ich dort einmal der zuständige Minister für Wirtschaft, Technik und Verkehr werden würde. Das Institut wurde im kleinen Städtchen Itzehoe gegründet, rein zufällig der Wahlkreis von Austermann, und es leistet heute noch einen hervorragenden Beitrag zur Modernisierung der deutschen Wirtschaft.

4. Hans Matthöfer, eine ehrliche Haut

Als Helmut Schmidt nach dem Rücktritt von Willy Brandt Bundeskanzler wurde, berief er einen ihm vertrauten Gewerkschaftler namens Hans Matthöfer in sein Kabinett. Der war bis dahin Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (also Entwicklungshilfe). Als das bekannt wurde, habe ich Matthöfer rechtzeitig aufgesucht, um ihn zu überreden, ebenso wie Ehmke auch das Postministerium als Doppelministerium zu führen. Das hat ihm damals leider nicht eingeleuchtet und Gescheidle stand ohnehin bei Schmidt auf der Matte. Später hat sich das geändert und Matthöfer hat bereut. Dazu muss ich kurz die weitere Ministerkarriere von Matthöfer beschreiben. Er wurde nämlich nach etwas mehr als zwei Jahren als Forschungsminister von Helmut Schmidt in das Amt des Finanzministers berufen. Das war insofern hilfreich, als er unseren Etat immer großzügig bedient hat. Danach, als ihn aus gesundheitlichen Gründen das Finanzministerium zu sehr belastete, wurde er doch tatsächlich Minister für das Post- und Fernmeldewesen. Er hat mir dann erzählt, dass er seine damalige Entscheidung, kein Doppelministerium aus Forschung und Post anzustreben, bedauert habe. Matthöfer war ein ungewöhnlicher Politiker, direkt und wahrhaftig, sozial engagiert und ohne Allüren, dabei aber mit allen Wassern gewaschen und mit einem realistischen Blick auf die Wirtschaft ausgestattet. Er pflegte zu sagen, dass er keine Magengeschwüre bekäme, sondern höchstens welche verursachen würde. Seine einzige Schwäche war eine kritiklose Bewunderung von Helmut Schmidt, die dieser vielleicht nicht immer erwiderte, insbesondere wenn Matthöfer ihm mit ökologischen Ansichten auf die Nerven ging.

Matthöfer hatte als Forschungsminister drei Themen, die ihn besonders interessierten. In anderen Bereichen ließ er Haunschild machen. Das war kurzfristig klug, denn damit konnte er sich nicht so leicht übernehmen. Ob es langfristig der Weisheit letzter Schluss war, ist zweifelhaft. Aber das merkt man leider erst, wenn es zu spät ist. Hier will ich einen kurzen Einschub machen. Das Ministerium förderte die Entwicklung des schnellen Brüters, eines Kernreaktors, dessen Stärke darin bestand, dass er immer wieder seinen eigenen Brennstoff reproduzierte. Das war eine interessante Idee, denn auch Uran ist eine endliche Ressource. Die Technik war allerdings schwer zu beherrschen und extrem teuer. Unsere ministerielle Kernenergielobby erklärte dem Minister, als er nicht mehr zahlen wollte, dass die Einstellung der Entwicklung nach Auffassung von erfahrenen Fachleuten das Ministerium noch teurer käme als die Weiterführung, denn es gäbe nun einmal Verpflichtungen. Erst Riesenhuber gelang es schließlich, das Milliardengrab zu schließen und den Weiterbau des Schnellen Brüters zu stoppen.

Das erste Thema, an dem das Herz von Matthöfer hing, handelte von der Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Wirtschaft und erhielt den Namen „Humanisierung des Arbeitslebens“. Dabei spielte auch persönliche Erfahrung eine Rolle. Der Vater von Matthöfer war Arbeiter in der Stahlindustrie gewesen und hatte dort einen schweren Unfall, der auf die mangelnde Arbeitssicherheit in dieser Industrie zurückzuführen war. Das war ein schwerer Schlag für die Familie und Matthöfer hat es nicht vergessen. Ich bekam bald die Zuständigkeit für dieses Programm, welches sehr schnell mit viel Geld ausgestattet worden war. Sehr zum Ärger von Haunschild gehörten auch Vertreter aus der Gewerkschaft zu einem Ausschuss, der dieses Programm begleitete. Das passte gar nicht in sein Weltbild und es war auch ein Lernprozess für alle Beteiligten, denn Gewerkschafter sind nicht immer bequem. Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, welche heftigen Debatten damit einher gingen. Das Programm hat viel bewirkt und ist heute noch legendär. Dabei bin ich übrigens das erste Mal mit Heide Simonis aneinandergeraten. Sie war Abgeordnete im Bundestag und Mitglied des Haushaltsausschusses. Irgendwie passte ihr ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der öffentlichen Verwaltung nicht und sie drohte, dass sie Fördermittel in unserem Haushalt kürzen würde, wenn wir dieses Projekt bewilligten. Es ging um nicht sehr viel Geld, mehr ums Prinzip, und ich habe sie daraufhin im Ausschuss angegiftet, was natürlich völlig ungehörig war. Ministeriumsvertreter sollten fein die Klappe halten, wenn die Vertreter des Volkes eine Meinung äußern. Ich glaube fast, sie hat es mir nie vergessen.

Das zweite Thema, welches Matthöfer am Herzen lag, war die Gesundheitsforschung. Ich kann mich noch erinnern, wie der zuständige Mitarbeiter einen Vorschlag machte, wie viel Geld er dafür im kommenden Jahr benötigte. Ich glaube es waren etwa 25 Millionen D-Mark. Das war weniger, als Matthöfer sich vorstellte und er legte einfach noch 10 Millionen drauf, obwohl der zuständige Mitarbeiter ganz eindringlich mahnte, das sei viel zu viel, um es sinnvoll ausgeben zu können. Inzwischen gibt das Ministerium das Zwanzigfache für Forschung im Dienst der Gesundheit aus, darunter übrigens in meiner Amtszeit auch Geld für ein Expertennetzwerk zum Thema Vorhofflimmern, wie ich sehr viel später und aus persönlichem Interesse festgestellt habe. Im Grunde handelte es sich um die Entwicklung einer neuen Förderkultur im Forschungsministerium, welches sich vor der Übernahme durch Ehmke, wie gesagt, vor allem auf Weltraumforschung, Kerntechnik und die Entwicklung großer Computer konzentriert hatte. Privilegierte Partner in der Industrie waren durchweg große Konzerne, die sich das Ministerium als eine Art Milchkuh hielten und kräftig gemolken haben. Humanisierung des Arbeitslebens und Gesundheitsforschung, also sozusagen Forschung im Dienste der Menschen, das war vielen Leuten im Ministerium, insbesondere Haunschild und seinen treuen Vasallen eher fremd.

Das dritte Thema war deshalb ebenfalls völlig neu für unser Ministerium, nämlich die Forschungsförderung in mittelständischen Unternehmen. Einer der größten Lacher bei den traditionellen Denkern im Ministerium war zum Beispiel die sogenannte elektronische Skibindung. Wir haben das Projekt bei einer mittelständischen Firma gefördert, um durch einen besseren sensorgesteuerten Auslösemechanismus die vielen Unfälle mit Knochenbrüchen bei Skiunfällen zu reduzieren. Heute wundert man sich vielleicht, warum die Leute gelacht haben, denn inzwischen gibt es so etwas zu kaufen. Die getreuen Knappen von Haunschild haben über mich gelacht und das hat mir damals keinen Spaß gemacht, denn so ganz sicher ist man ja seiner Sache nie.

Ein anderes Projekt war der Altennotruf, mit dessen Hilfe ältere gebrechliche Menschen telefonisch einen Notruf absetzen konnten, ohne vorher wählen zu müssen. Irgendwie hatte Haunschild das missverstanden und sprach immer von einem Alpennotruf, was ja nun auch nicht völlig sinnlos gewesen wäre. Aber wir hatten halt die Alten und nicht die Alpen im Sinn. Ein gebildeter Kollege in meiner Gruppe hat damals gern Georg Christoph Lichtenberg, im 18. Jahrhundert Ordinarius für Physik an der Universität Göttingen, zitiert: „Was? Die Sache verstehen, wenn man disputieren will? Ich behaupte, dass zu einem Disput notwendig ist, dass wenigstens einer die Sache nicht versteht, worüber gesprochen worden ist, und dass in dem sogenannten lebendigen Disput in seiner höchsten Vollkommenheit beide Parteien nichts von der Sache verstehen, ja nicht einmal wissen müssen, was sie selbst sagen.“ Diesen schönen Spruch hat er dann als Schild in seinem Büro aufgestellt. Wir haben viele solcher Projekte gestartet und ein Feld der Förderung war zur Verwunderung mancher Ministeriumskollegen die deutsche Uhrenindustrie. Es war die Zeit der Umstellung von mechanischen auf elektronisch gesteuerte Uhren, heute eine Selbstverständlichkeit. Aber damals hat selbst der Leiter des deutschen Uhrenforschungsinstituts (so etwas gab es damals) die Meinung vertreten, dass der ganze Hype um die Elektronik sich bald von selbst totlaufen würde.

Hier muss ich einen Einschub machen und von Klaus P. Friebe erzählen. Er ist ja ein alter Freund aus dem Studentenwohnheim. Er hat nach seiner Rückkehr aus Amerika frischen Wind mitgebracht und sich zunächst vor allem um die Anwendung der Mikroelektronik gekümmert. Sein Trick war, bei Besuchen mittelständischer Familienunternehmen der Chefsekretärin Blumen oder Pralinen mitzubringen. Er wusste, wann sie Geburtstag hatten und war der Erste, um zu gratulieren. So konnte er jederzeit Termine mit den Firmenchefs vereinbaren und das war hilfreich. Die haben sich vermutlich gewundert, wieso Friebe schon wieder in ihrem Büro erschien. Die deutsche Uhrenindustrie schaffte mit seiner Hilfe den schwierigen Umstieg von der Mechanik auf die Elektronik und bei den sogenannten Großuhren (zum Beispiel Wecker) war sie dann viele Jahre führend.

Dazu gibt es noch eine hübsche Geschichte. Vor dem oben erwähnten Abgeordneten Austermann hatten wir einen Haushaltsberichterstatter namens Stavenhagen. Stavenhagen hatte seinen Wahlkreis im Zentrum der deutschen Uhrenindustrie und bediente den Haushalt meiner Gruppe ganz gut, vorausgesetzt allerdings, auch die Uhrenindustrie profitierte davon. Bei den Berichterstattergesprächen im Ministerium haben wir vorher Wetten abgeschlossen, dass er bei dem entsprechenden Haushaltstitel wieder Geld drauflegen würde. Das tat er auch, entschuldigte sich kurz, um mit seinem Wahlkreis zu telefonieren und schon stand am nächsten Tag in der Provinzzeitung seines Wahlkreises, welche Wohltaten Stavenhagen wieder einmal durchgesetzt hatte. Das war nicht fein, aber es hat uns genützt, denn Geld brauchten wir. Einen großen Fehler haben wir allerdings gemacht. Wir haben zwar auch bei Kleinuhren (z.B. Armbanduhren) erfolgreich die Umstellung auf neue Technologien gefördert. Aber ein Schweizer namens Nicolas Hayek hat uns den Rang abgelaufen. Er erfand die Kult-Uhr Swatch, die technisch nicht besser war, als die von uns geförderten Uhren, aber sie brachte ein neues Design in den Markt. Er hat durch Design und eben nicht allein durch Technik im Grunde die Schweizer Uhrenindustrie gerettet. Wir haben die Bedeutung von Design bei Konsumartikeln damals nicht verstanden und das ärgert mich heute noch maßlos, wenn ich nur daran denke.

Im Grunde waren diese Einzelprojekte zwar meist wichtig und oft erfolgreich, aber irgendwie fanden wir, dass die Breitenwirkung begrenzt war. Es war damals die Zeit, als integrierte Schaltungen in vielen Bereichen die Industrie revolutionierten. Und wir haben uns überlegt, dass wir eine Doppelstrategie brauchen. Sie bestand zum Einen darin, dass wir quer übers Land Fachseminare für mittelständische Unternehmer organisierten, um über die Chancen der Mikroelektronik für Innovationen zu berichten. Wir fanden eine beachtliche Resonanz und dabei spielte Klaus Friebe eine wichtige Rolle. Von ihm wird auch später noch die Rede sein, denn das war nicht seine letzte Großtat. Manche Leute sprachen von Friebismus.

Zum Anderen aber erfanden wir ein breitenwirksames Programm „Anwendung der Mikroelektronik“, mit einfachen Regeln und schnellen Bewilligungen, dass auf drei Jahre befristet war. Die Befristung des Programms war wichtig. Jeder, der ein neues Produkt auf der Grundlage der Mikroelektronik entwickeln wollte, konnte sich bewerben, aber er musste schnell sein. Am Ende waren es in ganz Deutschland über 2000 mittelständische Unternehmen, die schnell und innovativ genug waren, um davon zu profitieren. Für dieses Programm konnten wir mit Hilfe des neuen Forschungsministers Volker Hauff und dank des Finanzministers Matthöfer genügend Geld mobilisieren. Ich glaube, es waren etwa 350 Millionen DM, die sich innerhalb eines Jahrzehnts mehr als bezahlt gemacht haben. Viele mittelständische Unternehmen, die heute außerordentlich exportstark sind, haben damals einen ersten Anstoß erhalten und durch ihr unternehmerisches Können den Grundstein für den Erfolg gelegt, von dem unsere Exportindustrie wohl heute noch profitiert.

Matthöfer verstand etwas von Wirtschaft und war länger in den USA gewesen. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit seinem runden Kopf in seiner direkten Art den staunenden Spezialisten des Forschungsministeriums eingehämmert hat, dass man die Benzinpreise mit einem hohen Steuersatz versehen müsse und zwar nicht allein, damit die Leute weniger Auto führen, sondern weil auf diesem Weg importiertes Erdöl durch deutsche Technologie substituiert werden könne. Denn durch moderne Technik könnten sparsamere Autos konstruiert und im In- und Ausland verkauft werden. Recht hatte er, aber er hat nicht immer recht bekommen. Seinen Bundeskanzler haben diese Thesen nicht erfreut, denn er fürchtete vor allem die Wähler, sowie seinen Koalitionspartner FDP. Dessen Wirtschaftsminister, damals Friderichs, bezeichnete seinen Kollegen Matthöfer öffentlich als Spinner. Und auch unser verehrter Staatssekretär war nicht immer begeistert von solchen Aussagen. Wir haben damals zum Beispiel eine Studie in Auftrag gegeben, welche Energieeinsparung in den nächsten Jahren durch Mikroelektronik möglich wäre. Die Studie kam zu dem Schluss, dass in etwa die Menge an Energie, die in Deutschland von Kernkraftwerken geliefert wurde, innerhalb von fünf Jahren durch Anwendung der Mikroelektronik eingespart werden könne. Es war natürlich reine Bosheit, ausgerechnet die Kernenergie zum Vergleich heranzuziehen.

5. Volker Hauff und die Solarenergie

Nachfolger von Matthöfer wurde sein Parlamentarischer Staatssekretär Volker Hauff. Nun muss man wissen, dass zwischen dem beamteten Staatssekretär, der auch die schöne Bezeichnung Amtschef trägt, und dem Parlamentarischen Staatssekretär, der im Ministerium in der Regel wenig zu sagen hat, ein natürlicher Konflikt besteht, den ich auch erfahren durfte, als ich später selbst zum Amtschef wurde. Insofern war das Verhältnis von vornherein gespannt. Aber Hauff ist ein kluger und unerschrockener Kopf, wie er nicht nur bei seiner Unterstützung für unser Programm .Anwendung der Mikroelektronik“ bewiesen hat. Ich glaube, dieses Programm mit seinen weitreichenden Folgen wäre ohne seine Hilfe nicht zustande gekommen. Als weiteres Beispiel dafür, dass Volker Hauff auch ein Visionär war, ohne den Arzt aufsuchen zu müssen, will ich deshalb von der Gründung des Instituts für Solarenergie der Fraunhofergesellschaft in Freiburg erzählen. Es wurde 1981 von einem meiner damaligen Gutachter in der Mikroelektronik namens Götzberger gegründet. Dem war allerdings ein langer Kampf zwischen Haunschild und Hauff vorausgegangen. Haunschild hielt das Institut für Spinnerei, denn er glaubte nicht an die Solarenergie.

Wir glaubten daran und rechneten aus, dass 4% aller Dachflächen in Deutschland genügten, um ganz Deutschland mit Strom zu versorgen. Das war natürlich Unsinn, wenn man nicht gleichzeitig über entsprechende Speichermedien für elektrische Energie verfügte. Außerdem war die Technik exorbitant teuer und nur wenige Träumer glaubten, dass sich eines Tages die Herstellungskosten so senken und der Wirkungsgrad so steigern lassen würde, dass die Fotovoltaik konkurrenzfähig werden könnte. Am Ende setzte sich Hauff durch und ich stelle hier mein Licht ausnahmsweise einmal unter den Scheffel. Ohne Volker Hauff gäbe es das Institut heute nicht. Inzwischen hat das Institut über 1000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und ist weltweit führend. Warum wir gleichwohl an den langfristigen Erfolg der Solarenergie glaubten, hing mit unseren Erfahrungen in der Halbleitertechnik zusammen, die ebenfalls einen langen Weg gegangen ist, bevor wir heute wie selbstverständlich ehemalige Großcomputer als Laptops benutzen. Wir glaubten, dass die Kombination aus technischem Fortschritt und Massenproduktion und die absehbare Knappheit fossiler Energieträger irgendwann die Solarenergie auch wettbewerbsfähig machen würde.

Von einer weiteren Geschichte, wie die Fotovoltaik in Deutschland Fuß fasste, will ich erzählen, denn sie zeigt, wie heftig der Konflikt damals war. Es begann mit der zweiten Ölpreiskrise 1979/80. Um gegen die drohende Rezession anzugehen, hatte Helmut Schmidt beschlossen, ein großangelegtes öffentliches Investitionsprogramm zu starten. Alle geeigneten Ministerien wurden aufgefordert, entsprechende Anträge zu stellen, die kurioserweise im Wirtschaftsministerium koordiniert wurden und zwar, das ist die Ironie der Geschichte, von einem der größten Kritiker öffentlicher Forschungsförderung namens Tietmeyer, später einmal Chef der Bundesbank. Das hat dem Ordoliberalen zwar nicht gepasst, aber was sollte er machen. Ein Problem war das Material für kostengünstige Solarzellen. Wir hatten mit einem der weltweit führenden Hersteller von Halbleiterkristallen, Wacker Chemitronic schon länger über die Möglichkeit diskutiert, preiswerte Siliziumkristalle für Solarzellen herzustellen. Der damalige Chef des Unternehmens war ein weit vorausschauender Mann. Lutz, so hieß er, lag allerdings im Streit mit dem Vorstandsvorsitzenden eines großen Chemieunternehmens, welches an Wacker zu 50% beteiligt war. Der hieß Sammet und erzählte einmal beim Mittagessen, dass ihn seine Kinder heftig kritisierten, weil er umweltfeindliche Produkte herstelle sowie Luft und Wasser verschmutze. Vielleicht hat er deshalb Lutz gewähren lassen, denn man soll seine Kinder nicht unterschätzen.

In der Energieabteilung gab es zum Glück auch so einen Revoluzzer namens Klein, der bei der AEG, die bis dahin Solarzellen für Satelliten produziert hatte, terrestrisch nutzbare Solarzellen fördern wollte. Also taten wir uns zusammen und stellten einen entsprechenden Antrag, der auch tatsächlich, möglicherweise durch eine Unaufmerksamkeit von Haunschild, an Tietmeyer weitergeleitet worden war. Einige Stunden vor der entscheidenden Sitzung im Wirtschaftsministerium erfuhren wir, dass unser Antrag auf Betreiben der Kernenergiebefürworter in unserem Ministerium wieder aus der Liste gestrichen worden war. Das haben wir uns nicht gefallen lassen und auf dunklen Wegen haben wir den Antrag wieder in die Liste hineinbekommen. Damit begann der Aufstieg von Wacker Chemitronic, die heute Siltronic heißen, zu einem weltweit führenden Lieferanten von Polysiliziummaterial für Solarzellen.

Volker Hauff ist ein ungewöhnlich kluger und eindrucksvoller Mann und wäre schon auf Grund seines Aussehens wohl auch als Filmstar durchgegangen, ähnlich wie Björn Engholm. Es ist eigentlich schade, dass er später als Oberbürgermeister von Frankfurt regelrecht verheizt wurde. Er hätte lieber als Oppositionsführer nach Baden-Württemberg gehen sollen. Wer weiß, wie weit er es dann gebracht hätte. Mindestens bis zum Ministerpräsidenten dieses Landes. Hauff wurde später, bis zum Abgang von Helmut Schmidt, Verkehrsminister und versuchte dort, die hochdefizitäre Bundesbahn auf einen neuen Kurs zu bringen. Ich hätte ihn gern begleitet, denn die Verkehrspolitik hat mich immer fasziniert. Aber offenbar traute er mir doch nicht so recht. Ich erinnere mich noch an eine Abteilungsleiterrunde, in der er mir vorwarf, immer nur meine Position einseitig zu vertreten, statt auch die Gegenargumente hinreichend ernst zu nehmen. Wie es schon in dem Gedicht von Robert Gernhardt heißt: „Meine Meinung, ja das lässt sich hören, deine Deinung könnte da nur stören.“ Und Andreas von Bülow übernahm den Stab.

6. Andreas von Bülow, eine widersprüchliche Figur

Er war ein ganz merkwürdiger Zeitgenosse. Bevor er Minister wurde, war er Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und hatte dort Erfahrungen mit Geheimdiensten sammeln können. Vorher war er Vorsitzender des Haushaltsausschusses und auch in dieser Funktion kann man eine Menge lernen. Ich erinnere mich daran, wie er mich einmal bei einer Besprechung ermahnte, lauter zu reden, damit ich mich besser durchsetzen könne. Er hatte, im Gegensatz zu mir, eine laute und wohlklingende Stimme und Helmut Schmidt schätzte wohl seinen immerwährenden Pragmatismus und unterschätzte seinen Dickkopf. Der zeigte sich, als von Bülow nach dem Anschlag vom 11. September auf das World Trade Center in einem dicken Buch die These vertrat, dass dafür nicht Osama bin Laden, sondern der CIA verantwortlich gewesen sei. Damit hat er sich endgültig ins politische Aus verabschiedet.

Gleich zu Anfang der Amtszeit von Andreas von Bülow setzten sich einige Leute zusammen, zu denen auch ich ganz am Rande gehörte, und berieten, wie man wohl Haunschild nunmehr in den wohlverdienten vorzeitigen Ruhestand befördern könnte. Wir müssten uns dabei fest an die Hand nehmen, meinte der damalige Leiter des Ministerbüros. Wir nahmen uns an der Hand. So ist es manchmal in der Politik. Die Atmosphäre zwischen dem Minister und seinem Staatssekretär wurde immer giftiger. Aber dann war von Bülow auf einmal weg, denn die Amtszeit des Bundeskanzlers Helmut Schmidt und damit auch seine endete bekanntlich vorzeitig.

Aus meiner Froschperspektive habe ich an ihm als Minister geschätzt, dass er für neue Ideen sehr offen war. Eine davon will ich schildern, denn sie beschäftigt mich heute noch. Wir hatten über viele Jahre die Mikroelektronik bei Siemens gefördert, aber der durchschlagende Erfolg blieb aus. Gleichzeitig sahen wir, dass junge Unternehmen in den USA, wie Intel, AMD oder National Semiconductors erfolgreich immer mehr Marktanteile gewannen. Wir zogen daraus die Schlussfolgerung, dass neue Märkte etwas für neue Unternehmen wären und wir in Deutschland auch solche Unternehmen brauchten und selbst bei teuren Technologien nicht immer nur auf Großunternehmen setzen dürften. Auf zwei Dienstreisen nach Amerika, eine davon zusammen mit dem Minister, lernten wir einige der erfolgreichen Akteure kennen, darunter Bob Noyce, Mitgründer von Intel. Der ins Auge fallende Unterschied zu Deutschland war zunächst einmal die Größe der Dienstzimmer der Chefs. Noyce hatte ein ziemlich kleines Zimmerchen, während die ständig wechselnden Chefs der Halbleitersparte von Siemens ausgesprochen feudal residierten. Aber das hat nicht viel genützt.

Eine besonders eindrucksvolle Persönlichkeit in Amerika war Eugene Kleiner, den ich auch einmal zusammen mit Klaus Friebe zu Hause aufsuchen durfte. Er war ein gebürtiger Wiener, der gemeinsam mit Noyce (und übrigens auch Götzberger) bei dem etwas skurrilen Erfinder des Transistors William B. Shockley in den Bell Labs tätig gewesen war. Der erhielt dafür zusammen mit anderen den Nobelpreis. Shockley hat dann später über den Zusammenhang von Rasse und Intelligenz geforscht und war ein früher Vorläufer der Spinnereien von Sarrazin in dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“. Kleiner hatte nach seinem Ausscheiden aus den Bell Labs eine der führenden Venture Capital Gesellschaften in den USA mit gegründet und das Geld eingesammelt, welches für den Aufstieg von Intel entscheidend war. Er hat dann noch zahlreiche andere erfolgreiche Unternehmen unterstützt und war zugleich ein höchst kultivierter Mensch, der einen schönen Steinway in seinem Wohnzimmer stehen hatte. Ein solches Unternehmen hieß Tandem Computers und der Witz war, zwei parallele Computer so miteinander zu verknüpfen, dass ein ausfallsicheres System entstand. Sein Gründer, James B.Treybig, war bei Hewlett Packard beschäftigt und als dort seine Ideen nicht realisiert werden konnten, hat er mit Kleiner darüber gesprochen, sich mit seiner Idee selbständig zu machen. Der hat ihn erst einmal für einige Monate in seiner Venture Capital Gesellschaft angestellt, damit er die Fallstricke einer solchen Gründung besser verstehen lernte.

Ich habe ihn, als seine Firma schon florierte und auf einen Milliardenumsatz zuging, besucht. Er fragte mich, ob ich ein Bier wolle und als ich bejahte, ging er zum Kühlschrank und holte zwei Büchsen Bier heraus. Anschließend führte er mich in die Fertigung und schäkerte dort mit den Arbeiterinnen, die ihn fröhlich begrüßten. Treybig, so erzählte mir später ein mittelständischer deutscher Computerhersteller namens Dietz, den Patrick gut kennt, kam eines Tages nach Deutschland, mit Turnschuhen und Jeans, wie der junge Joschka Fischer, und schlug Herrn Dietz vor, seine Prozessoren in dem ausfallgeschützten Tandemsystem einzusetzen. Dietz im feinen Zwirn hat seine Turnschuhe betrachtet und ihm nicht getraut. Das war ein großer Fehler, denn er hätte damit das Geschäft seines Lebens gemacht. Ich habe Kleiner sehr bewundert und wir dachten, in Deutschland sollten solche Geschichten auch möglich sein. Näheres dazu werde ich im nächsten Kapitel erzählen aber eine andere Geschichte will ich zunächst noch vorwegnehmen.

Auf einer Amerikareise, zusammen mit Klaus Friebe und meinem Kollegen Hartmut Grünau, haben wir auch die National Science Foundation NSF aufgesucht, das Pendant zur Deutschen Forschungsgemeinschaft. Dort fanden wir einen ehemaligen Venture Capital Mann, der für die NSF ein neues Programm entwickelt hatte und wie ein Schrebergärtner aussah. Seinen Namen habe ich vergessen, aber sein Programm nicht, denn wir haben es in Deutschland nachgeahmt. Wir nannten es den TOU-Modellversuch, der allerdings erst nach dem Wechsel in der Bundesregierung unter Minister Riesenhuber umgesetzt werden konnte. Ich werde den sogenannten Modellversuch im nächsten Kapitel genauer schildern, denn ich glaube, er war eine gute Idee. Eine zweite ganz andere Idee führte dazu, dass ich an der letzten Sitzung des Kabinetts von Helmut Schmidt vor seinem Sturz auf einem Stühlchen im Hintergrund teilnehmen durfte. Wir wollten ressortübergreifend dafür sorgen, dass die Informations- und Kommunikationstechnik in Deutschland einen Sprung in die Zukunft machen konnte. Also haben wir ein entsprechendes ressortübergreifendes Programm entwickelt und mühsam mit anderen Ressorts diskutiert, welches auf allen Feldern, in denen diese Technik neue Perspektiven eröffnete, die Aktivitäten bündeln sollte, einschließlich beispielsweise der Verkehrstechnik, wo wir besondere Chancen sahen. Und das Kabinett sollte dieses Programm verabschieden. Es war schon ein besonderes Erlebnis, die Feindseligkeit im Kabinett zwischen Genscher, Graf Lambsdorff und Helmut Schmidt hautnah vorgeführt zu bekommen. Es menschelte sehr und die Beteiligten schauten sich böse an.

Mit der Inthronisierung von Helmut Kohl als Bundeskanzler bekamen wir schließlich auch einen neuen Minister, von dem ich im nächsten Kapitel erzählen will. Die SPD-Minister hatten tatsächlich im Mittel immer nur zwei Jahre amtiert. Insofern hatte Haunschild, jedenfalls bis dahin recht behalten.

7. Heinz Riesenhuber, der Regierungswechsel

1982 stürzte Helmut Schmidt auf Initiative der FDP. Das hat in dieser Partei zu einem Aderlass geführt. Viele langjährige FDP-Akteure und vor allem die jüngeren verließen die Partei, einige traten zur SPD über, die sie als die wahre liberale Partei in Deutschland betrachteten. Die Misere der FDP von heute begann im Grunde mit diesem Aderlass schon damals, denn die potentiellen Erneuerer waren weg. Für mich war das natürlich ein Einschnitt. Denn die CDU war in der Regel nicht zimperlich, wenn es um die Förderung ihrer Mitglieder in Schlüsselpositionen ging. Und auch im Ministerium versuchten nun einige Leute ein wenig Rache zu nehmen. Schon in der ersten Abteilungsleiterrunde mit Riesenhuber erhob ein Kollege, der meinte, alte Rechnungen begleichen zu müssen, die Stimme und schlug dem neuen Minister vor, mich meines Postens zu entheben. Riesenhuber war indigniert und hat das abgelehnt, obwohl er mich kaum kannte. Er hat dann eigentlich alle unsere Initiativen vor dem Regierungswechsel weiter geführt, darunter auch den Modellversuch TOU. TOU steht für Technologieorientierte Unternehmensgründungen. Eigentlich hat dieses Projekt erst mit ihm richtig Fahrt aufgenommen. Aber es hatte auch seine Tücken.

Wir hatten das Schema, wie gesagt, von der National Science Foundation abgekupfert. Riesenhuber nannte es freundlicherweise „Kapieren, nicht Kopieren“. Unternehmensgründungen sollten in drei Phasen gefördert werden, einer Konzeptphase, mit einem 75%igen Zuschuss, einer Entwicklungsphase mit einem 80%igen Zuschuss, maximal, glaube ich, 800000,-DM und einer Markteinführungsphase mit einem eigenkapitalähnlichen Darlehen. Experten waren der Meinung, dass sich das Interesse für diesen Modellversuch in Grenzen halten würde. In Deutschland wolle sich doch eh niemand selbständig machen, nur weil er eine technisch interessante und innovative Idee hat, denn Deutschland sei unternehmerfeindlich, und das gelte bestimmt auch bei für die junge Generation. Das war ein großer Irrtum.

Wir hatten zwar vorsorglich eine Reihe von Organisationen mit der Betreuung des Projekts beauftragt, aber die stürmische Nachfrage überraschte uns dann doch. Wir wurden mit Anträgen überhäuft. Die Tücke bestand nun darin, dass wir zwar einige hundert Anträge bewilligen konnten, weil sie aussichtsreich genug erschienen. Aber wir mussten einige tausend ablehnen, weil unsere Fachleute der Meinung waren, dass sie unternehmerisch nicht hinreichend durchdacht wären. Viele Antragsteller, natürlich nur die, welche abgelehnt worden waren, beschwerten sich daraufhin bei ihrem regionalen Abgeordneten. Der schrieb einen Brief an den Minister und die Arbeit an den Antwortentwürfen legte unsere Kapazität im Ministerium lahm. Tatsächlich ist es zwar für einen privaten Finanzier einfach, einem Antragsteller auf Finanzierung zu sagen: „Dein Gesicht ist mir wie Dein Rücken.“ Der Staat kann das nicht so ohne weiteres. Wir haben daraus Schlussfolgerungen gezogen, auf die ich noch komme.

Jedenfalls war der Modellversuch für Riesenhuber insofern unbequem aber er hat tapfer bis 1988 durchgehalten. Durch die sorgfältige Auslese sind in den ersten Jahren nur wenige der neu gegründeten und geförderten Unternehmen pleite gegangen und viele haben sich dauerhaft am Markt etablieren können. Das Programm, oder vielmehr der Modellversuch, wurde übrigens nach der Wiedervereinigung als TOU-NBL, sprich Neue Bundesländer, wieder aufgewärmt und hat auch in Ostdeutschland einige positive Wirkungen entfalten können. Wir hatten natürlich in unserem damals noch jugendlichen Leichtsinn gehofft, es würden auf diesem Wege auch einige schnell wachsende und weltweit agierende Unternehmen entstehen. Aber das war doch eher selten der Fall. Der Grund war klar. Selbst wenn einige der Neugründungen das Potential dazu hatten, mit der TOU-Förderung allein war es nicht getan. Ohne privates Wachstumskapital waren die Wachstumsraten nicht erreichbar, die zum Beispiel Intel oder in jüngster Zeit Google groß gemacht haben.

Und damit komme ich zunächst einmal zu einer höchst merkwürdigen Konstruktion, der Deutschen Wagnisfinanzierungsgesellschaft WFG. Sie war schon 1975 gegründet worden und zwar gemeinschaftlich von den deutschen Großbanken. Die hatten eine gute Idee, auf die ich gleich noch zu sprechen komme. Die WFG hatte einen hochrangigen Beirat, der regelmäßig in der Deutschen Bank in Frankfurt tagte. Der Wein aus den Weinkellern der Deutschen Bank war erstklassig und das Essen wohl auch, aber die Entscheidungen konnten es nicht sein. Warum? Die WFG war die erste deutsche Venture Capital Firma, aber sie hatte am Anfang die schlechte Idee, dass sie ihre Beteiligung an Jungen Unternehmen diesen später mit Gewinn wieder verkaufen könnte. Die gute Idee war allerdings, den Staat zahlen zu lassen. Das Forschungsministerium hatte zugesagt, bei Verlusten den größten Teil zu übernehmen. Also ging die WFG eine Beteiligung ein und schrieb diese wegen des enormen Risikos gleich wieder ab. Es entstand ein Verlust und wir durften zahlen. Klingt irgendwie vertraut?

Als ich die Zuständigkeit übernehmen durfte, habe ich mit den Banken verhandelt, um diese Zahlungsverpflichtungen wieder los zu werden. Das wollten die Banken nicht, denn wo kämen sie denn hin, wenn sie das Risiko allein tragen müssten. Dafür sei schließlich der Staat da. Schließlich hat sich die Deutsche Bank bereit erklärt, das Portfolio der WFG zu übernehmen und allein weiter zu führen. Sie hat sich dann schnell von der Finanzierung junger Unternehmen verabschiedet. Banken sind nicht unbedingt die geeignetsten Partner, um die risikoreiche aber zugleich auch chancenreiche Finanzierung junger Technologieuntemehmen zu betreiben. Denn dazu ist eine genaue Kenntnis von Technologien und Märkten unabdingbar. Und die haben sie nicht. Parallel zum TOU-Modellversuch entwickelten sich die ersten guten Ansätze für Venture Capital in Deutschland, aber es dauerte doch fast ein Jahrzehnt, bis dieser neue Ansatz sich auch in Deutschland breiter durchsetzte. Maßgeblich dafür war die Gründung einer Börse, bei der sich die Venture Capital Gesellschaften refinanzieren konnten, in dem sie ihre Anteile an erfolgreichen Unternehmen Anlegern mit Gewinn verkaufen konnten. Der sogenannte Neue Markt funktionierte auch am Anfang ganz prächtig und im Jahr 1999 verfügten die Venture Capital Gesellschaften in Deutschland über ein Kapital von 3,7 Milliarden DM. Deutschland wurde in Europa führend, aber leider platzte die Blase dann im Jahr 2000 und so richtig hat sich diese Art der Finanzierung junger Technologieuntemehmen seither, jedenfalls in Deutschland, nicht mehr erholt.

Hier muss ich noch einen Einschub machen. Ich hatte damals einen sehr aktiven Kollegen, mit dem ich regelmäßig Sqash spielte. Ihr kennt ihn, es ist Friedrich Bomikoel. Eines Tages fragte mich Graf Matuschka, der Gründer einer neuen Venture Capital Gesellschaft namens Technoventure, ob wir nicht einen Austausch von Personen zwischen seiner Gesellschaft und dem Ministerium machen sollten. Ich benannte tatsächlich einen der Besten, nämlich Friedrich Bomikoel. Der ging also als Austausch zu Technoventure und meinte nach einem Jahr, dass er nunmehr ein Vielfaches verdiene und ganz dort zu bleiben beabsichtige. Heute ist er einer der beiden Geschäftsführer mit einem sehr beachtlichen Erfolg. Womöglich ist er Millionär geworden. Der „Austausch“ blieb leider einseitig.

Zurück zum Thema TOU. Wir nährten wegen der Schwierigkeiten im TOU-Modellversuch die Hoffnung, zur Gründung von Venture Capital Gesellschaften dadurch beizutragen, dass wir ihre Investitionen mit einem staatlich finanzierten Leverage abstützen. Mit Leverage ist gemeint, dass ihr Engagement vom Staat in gleicher Höhe mitfinanziert wurde. Hartmut Grünau handelte einen Vertrag mit einer staatlichen Bank aus, nämlich mit der inzwischen in der Kreditanstalt für Wiederaufbau aufgegangenen Deutschen Ausgleichsbank. Der sah vor, dass bei einer privaten Venture Capital Investition eine Tochter der Deutschen Ausgleichsbank, die dafür extra gegründete tbg, einen gleich hohen Betrag drauflegte. Das war das BTU-Programm, BTU war die Abkürzung von Beteiligungskapital für junge Technologieunternehmen. Übrigens hat auch Patrick diese Möglichkeit für seine neu gegründete Firma Edgar Online in Anspruch genommen Das funktionierte und der Neue Markt gab dem ganzen Unternehmen einen kräftigen Schub. Wenn allerdings ein solches Technologieunternehmen pleite ging, blieb der Verlust an der tbg hängen, die wiederum auf das zuständige Ministerium zurückgreifen konnte. Solange der Neue Markt funktionierte, war das kein echtes Problem. Aber als dieser zusammenbrach, wurde das doch, allerdings erst nach einer längeren Frist, recht teuer. Nun hatte sich ausgerechnet das Bundeswirtschaftsministerium zwischenzeitlich die Zuständigkeit für BTU an Land gezogen und das Forschungsministerium hatte sie im richtigen Moment abgegeben. Und so durfte dann das Wirtschaftsministerium aus seinem Haushalt die Rechnung begleichen.

Man könnte natürlich behaupten, dass wir mit dem BTU-Programm einen schwerwiegenden Fehler gemacht hätten. Aber ich glaube, dass der Fehler eher in der laxen Struktur des Neuen Markts gelegen hat. Sie erlaubte es, den Banken, die ein Untemehmen an die Börse brachten, auch mit eher windigen Unternehmen noch ein Geschäft zu machen. Nur ihnen war es erlaubt, ein Untemehmen an die Börse zu bringen und die Prospekthaftung, welche so etwas hätte verhindern können, war leider in Deutschland noch unterentwickelt. Der Boom stand deshalb auf schwachen Beinen und das Platzen der Intemetblase verschärfte die Situation noch. Inzwischen erholen wir uns in Deutschland nur langsam wieder, während es in Frankreich und Großbritannien besser funktioniert, von den USA oder gar dem führenden Land Israel ganz zu schweigen.

Ich bin jetzt ein wenig von der Kapitelüberschrift abgekommen und kehre zu Riesenhuber zurück. Er war und ist immer noch ein vorzüglicher Redner und kluger Kopf. Dabei ist er ungeheuer fleißig. Es kam schon vor, dass er eigenhändig einen Vermerk schrieb und ihn ins Haus schickte mit der Bitte um Durchsicht und gegebenenfalls Verbesserung. Normalerweise funktioniert das umgekehrt und über diese Umkehrung amüsierten wir uns. Riesenhuber hatte in seinem Büro ein Schild aufgestellt, welches gut sichtbar am Fenster platziert war und fragte: „Sind sie ein Teil des Problems oder tragen Sie zur Problemlösung bei.“ Das gab seinen Beamten natürlich zu denken, denn als Teil eines Problems verstanden sie sich nicht. Die Bildzeitung wollte Riesenhuber fördern und, wie man sagt, mit ihm im Fahrstuhl nach oben fahren, denn sie liebte die CDU über alles. Einmal saß ich in seinem Büro, als der Pressechef des Ministeriums seinen Kopf hereinsteckte, um auf eine Anfrage der Bildzeitung hinzuweisen. Dieses Blatt hatte eine Rubrik, die, glaube ich, Wort des Tages hieß. Sie wollten ein Wort des Tages von Riesenhuber veröffentlichen und hatten den Text gleich selbst fertig gestellt, um kein Risiko einzugehen. Der Minister musste nur noch zustimmen. War das nicht eine freundliche Geste von ihnen? Ja, die deutsche Presse.

Viel Mut und Geschick zeigte Riesenhuber, als es um die weitere Förderung der Mikroelektronik von Siemens ging. Ich hatte die ständige Förderung ohne durchschlagenden Erfolg satt und habe dem dafür verantwortlichen Vorstand von Siemens mitgeteilt, dass ich die Förderung einstellen würde, wenn sie so wie bisher weitermachten. Damals hatten die Japaner einen außerordentlichen Erfolg, der selbst den Amerikanern Angst machte. Wir haben also Siemens für ein wirklich erfolgversprechendes Konzept eine erhebliche Summe geboten und nannten das Vorhaben das Megaprojekt. Bei Siemens war die Mikroelektronik, die vor sich hin dümpelte auch schon in Verruf. Aber schließlich entschloss sich der damalige Vorstandsvorsitzende von Siemens Kaske unser Angebot anzunehmen.

Dabei tauchte nun ein Problem auf, nämlich wie dieses Projekt den der Regierung nahe stehenden Zeitungen FAZ und WELT zu verkaufen. Wenn sie Riesenhuber deshalb verreißen würden, war das Projekt so gut wie tot. Der Pressesprecher des Ministeriums lud daher die verantwortlichen Redakteure vorab zu einem Gespräch ein und zwar exklusiv. Ich erläuterte das Megaprojekt und irgendwie haben sie die Förderung beinahe begrüßt und jedenfalls nur geringfügig kritisch bewertet. Das Projekt konnte anlaufen. Bald darauf haben wir versucht, die Anstrengungen in der Mikroelektronik auf eine europäische Ebene zu heben und die Geschichte will ich auch noch erzählen. Es kamen eigentlich nur drei große europäische Firmen in Frage, eine französische, eine niederländische und eben Siemens. Europäische Firmen waren auf diesem Feld ziemlich abgeschlagen Die Japaner hatten das Feld der sogenannten Submikrontechnologie besetzt und machten sogar den amerikanischen Firmen Angst.

Wir haben uns zunächst in Paris mit den Franzosen zu einem gemeinsamen Strategiegespräch getroffen. Die damalige französische Ministerin Cresson nahm daran teil und erklärte ihre Sympathie. Bei einem gemeinsamen Mittagessen haben wir dann lange geknobelt und schließlich den schönen Namen JESSI gefunden. JESSI stand für Joint European Silicon Submicron Initiative. Die „Initiative“ war erfolgreich, denn einige Jahre später waren alle drei Unternehmen (die Franzosen hatten sich mit den Italienern zusammengetan, um ein gemeinsames Unternehmen namens SGS Thomson, später STMicroelectronics genannt, zu gründen, welches heute in Europa führend ist) unter den ersten zehn weltweit. Siemens hat bald darauf seine Aktivitäten ausgelagert, an die Börse gebracht und dafür den Namen Infineon erdacht. Der niederländische Partner, also Philips, hat inzwischen verkauft und das Nachfolgeunternehmen heißt NXP. Sie sind nach STMicroelectronics und Infineon heute der drittgrößte Hersteller in Europa.

Niemand hatte allerdings zu dem Zeitpunkt die Südkoreaner auf der Liste. Weil sie so schön ist, will ich dazu auch noch eine Geschichte erzählen, die den gelegentlichen Hochmut unserer Großindustrie zeigt. Irgendwann in den Siebziger Jahren wurde ich von Haunschild auf eine Erkundungsmission nach Südkorea geschickt, als eine Art Trüffelschwein. Südkorea war damals als Militärdiktatur in Acht und Bann und deshalb durfte auch nur ein deutscher Regierungsvertreter minderen Ranges, wie ich, dahin reisen. Ich habe noch einige Wissenschaftler mitgenommen, darunter einen Experten für Uhrenschaltkreise. Wir besichtigten unter anderem eine Montagefabrik von Philips in Soeul, in der ca. 4000 junge Frauen Kontakte an Mikrochips anlöteten. Mehr traute man damals den Südkoreanern nicht zu (die Frauen hatten angeblich alle Abitur). Wir hatten auch davon gehört, dass eine Firma Samsung Electronics irgendwie Uhrenschaltkreise in C-MOS-Technik herstellte. Also fragten wir den Siemensvertreter, der kurioserweise seine Räume unmittelbar über der deutschen Botschaft hatte, ob es sich lohnen könne, die Produktion einmal anzuschauen. Er riet davon ab, das sei nur so eine Art Labor ohne Interesse.

Wir sind trotzdem hingefahren und fanden eine Fabrik vor, die von Südkoreanern betrieben wurde, welche vorher in Silicon Valley auf dem Gebiet der Mikroelektronik tätig waren. Unser Experte erbat sich ein paar Schaltkreise aus der Produktion und stellte später in Deutschland fest, dass diese absolut auf hohem Niveau produziert worden waren und auch die Ausbeute an guten Schaltkreisen entsprach dem internationalen Standard. Bei einem zweiten Besuch in Südkorea einige Jahre später entsprach die Mikroelektronik von Samsung bereits in aller Breite europäischen Standards und heute sind sie weltweit führend, wenn auch in ihren Geschäftspraktiken etwas umstritten. Die Japaner haben sie jedenfalls überflügelt. Den Chef konnte man übrigens damals an der Kleidung nicht erkennen. Er trug die gleiche graue Windjacke, wie seine Mitarbeiter mit einem Schild, auf dem nicht der Name, sondern „be perfecf geschrieben stand.

Mein Fazit der Zeit mit Riesenhuber ist, ich habe mich mit ihm eigentlich überraschend gut verstanden. Er hat immer noch einen hellwachen Verstand und vermutlich war seine einzige Schwäche die von Matthöfer, nur das an die Stelle von Helmut Schmidt bei ihm Helmut Kohl getreten ist. Ob dieser Riesenhuber in gleicher Weise respektiert hat, wage ich zu bezweifeln. Man sagte, er wurde im Kohl-Kabinett, wohl als der Mann, der alles wusste, ein wenig gemobbt und gleichzeitig ob seiner Intelligenz beneidet. Allerdings waren meiner Karriere im Ministerium aus parteipolitischen Gründen Grenzen gesetzt und ich begann, mich nach Alternativen umzuschauen.

8. In der Landespolitik mit Björn Engholm

Als erster hatte mich Jochimsen gefragt, ob ich als Abteilungsleiter in das Wirtschaftsministerium von Nordrhein-Westfalen eintreten wolle. Eingebildet, wie ich war oder bin, wollte ich das nur machen, wenn ich bald darauf sein Staatssekretär werden würde. Das konnte er nicht zusagen. Dann fragte Lafontaine, der gerade Ministerpräsident des Saarlandes geworden war, ob ich als Staatssekretär in seiner Regierung tätig werden wolle. Ich bin mit Marie-Maud nach Saarbrücken gefahren, damit sie die Stadt in Augenschein nehmen konnte. So richtig begeistert war sie nicht, ich genau so wenig, und obwohl das Gespräch mit Lafontaine, den ich ja schon kannte, recht freundlich verlief, wurde nichts daraus, denn er wollte mich in einem Ministerium unterbringen, welches mir nicht passte.

Und dann kam ein Gespräch mit Björn Engholm zustande, der sich anschickte, die Wahl in Schleswig-Holstein zu gewinnen. Er bot mir die Position des Staatssekretärs im Ministerium für Wirtschaft, Technik und Verkehr an. Das Gespräch verlief allerdings recht merkwürdig. Engholm war ziemlich müde und schaute beständig einen Papagei an, der friedlich in seinem Käfig saß. Er fragte den Papagei, ob er Staatssekretär in Schleswig-Holstein werden wolle. Ich habe an seiner Stelle zugesagt, Urlaub genommen, auch ein wenig Wahlkampf gemacht und dann hat Engholm doch tatsächlich die Wahl knapp verloren. Daraufhin erschien im Bonner Generalanzeiger ein Bericht unter der Überschrift, Uwe Thomas, Staatssekretär i.L. (Gemeint mit i.L. war in Lauerstellung). Damit war ich im Forschungsministerium eigentlich eine lahme Ente, obwohl Riesenhuber es mir nicht übelgenommen hat. Sein damaliger Staatssekretär Ziller (Haunschild war inzwischen ausgeschieden) allerdings schon, denn der war ein strammer CDU-Mann. Irgendjemand hatte ihm die Kieler Nachrichten zugeschickt mit ein paar kräftigen Sprüchen von mir.

Zwischendurch sollte ich auch noch Staatssekretär in Hamburg werden, wobei dort dieses Amt Senatsdirektor heißt. Aber der Senator, also Minister, war ein FDP-Mann und fand das gar nicht witzig. Marie-Maud hat Hamburg allerdings gefallen, während sie bei Kiel sehr zurückhaltend war. Daraus wurde auch nichts. Da Ihr mich gut kennt wundert Ihr Euch über das ausgeprägte Interesse an meiner Person. Der Grund war schlicht, dass die SPD mehrere Landtagswahlen gewonnen hatte und infolgedessen einige Führungspositionen in den Ministerien neu zu besetzen waren. Das galt am Ende auch für Kiel. Denn ein Jahr später musste Barschel, der CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, schließlich gehen und Engholm wurde Ministerpräsident. Ich ging also nach Schleswig-Holstein, während Marie-Maud ihr begonnenes Studium in Bonn mit einer Doktorarbeit abzuschließen beabsichtigte.

Mein Minister hieß Franz Froschmaier und kam von der EU-Kommission in Brüssel. Er war und ist ein außerordentlich liebenswerter Mensch. Ich habe ihn später beerbt. Wahrscheinlich hatte sich Engholm an mein Gesicht gewöhnt, denn ich saß ihm im Kabinett genau gegenüber und durfte seinen Pfeifenrauch einatmen. Engholm hielt sehr auf Disziplin und hatte sich einen guten Trick im Kabinett bei Helmut Schmidt abgeguckt, denn er war sein Bildungsminister gewesen. Du bist also mit einer Kabinettvorlage deines Ministeriums, die oft bis zu 50 Seiten umfasste, in die Sitzung gekommen. Und so ganz nebenbei fragte Engholm, warum auf Seite 38 keine andere Empfehlung gewählt worden war. Er hatte diese Seite vor sich, welche sorgfältig von seinem Staatssekretär ausgewählt worden war.

Daraufhin fing man wie wild an zu blättern, denn alle Seiten wusste man nicht auswendig und Engholm schaute vergnügt zu, wie man sich abmühte. Falls jemand von Euch einmal in einer geeigneten Position sich wiederfindet, kann ich den Trick weiter empfehlen. Ich habe dann darauf hingewiesen, dass genau diese Empfehlung die einzig vernünftige Lösung sei und warum er anderer Meinung sei. Und in der Zwischenzeit hatte ich dann die Seite gefunden.

Eine Marotte hatte Engholm, die wir sehr gefürchtet haben. Denn häufig gab es eine abendliche Sitzung. Wenn diese zu Ende war fragte Engholm, ob wir noch einen Wein mit ihm trinken wollten. Das war fatal, vor allem in den ersten Monaten, obwohl der Wein ausgezeichnet war. Engholm begann seinen Arbeitstag so gegen 10 Uhr morgens und wir mussten bereits um 8 Uhr im Ministerium sein, um zu regieren. Hinzu kam, dass wir ein durch und durch CDU-besetztes Ministerium zu führen hatten und die Vorlagen an die Leitung waren entsprechend. In den ersten Monaten bin ich jeden Abend mit zwei dicken Aktentaschen angefüllt mit solchen Vorlagen nach Hause gegangen, und zwar so gegen 21 Uhr. Meistens dauerte das Durcharbeiten und Korrigieren bis weit nach Mitternacht. Es war ein hartes Brot.

In den ersten Wochen gab es neben den Sitzungen mit der SPD-Landtagsfraktion ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Wir Neulinge mussten uns bei einem Abgeordneten des SSW vorstellen, der die dänische Minderheit vertrat. Ich kam also hin und der äußerst trinkfeste Abgeordnete schenkte sich und mir ein Glas Wasser ein, dachte ich. Es war aber Aquavit und damit war der Tag ziemlich gelaufen. Ein sehr umstrittenes Thema war damals der Verkauf von Unterlagen zum Bau von U-Booten an Südafrika. Das war von der SPD heftig kritisiert worden. Da ich kraft Amtes in den Aufsichtsrat der HDW-Werft gewählt worden war, musste ich mich damit auseinandersetzen und das war leichter, als ich dachte. Denn der Vorgänger von Franz Froschmaier hatte versehentlich zwei einschlägige Aktenordner in seinem Büro vergessen. Ich habe einen Beamten, natürlich CDU-Mitglied, in mein Büro gebeten und ihn diese Aktenordner durchblättern lassen mit der Drohung, dass es ihm an den Kragen gehen würde, wenn er etwas Wichtiges übersähe. Und was fand er? Einen Briefwechsel mit Franz-Josef Strauß.

In einem Brief schrieb Strauß an den Vorstand der HDW mit Kopie an diesen Minister, er habe mit Bundeskanzler Kohl eine Unterredung gehabt und der sei einverstanden gewesen mit dem Südafrika-Deal. Die Genossen triumphierten, als sie den Brief in die Hände bekamen und sie fanden daraufhin, dass der neue Staatssekretär seine Bewährungsprobe bestanden hat. Später, und das will ich hier vorwegnehmen, ging es dann um den Verkauf von U-Booten an Taiwan. Das hat die Chinesen so erbittert, dass sie den chinesischen Botschafter zu mir geschickt haben mit dem dringenden Wunsch, diesem Geschäft nicht zuzustimmen. Nach Rücksprache mit Engholm habe ich das zugesagt und zugleich darauf hingewiesen, dass ich in den nächsten Monaten mit einer Delegation nach China zu reisen beabsichtigte.

Damit das Folgende verständlich wird, muss ich zunächst über die Situation der Werftindustrie in Schleswig-Holstein einige Worte sagen. Bis auf die große HDW-Werft, an der das Land mit 25% beteiligt war, und die durch Militäraufträge einigermaßen über die Runden kam, waren alle anderen Werften in Schwierigkeiten. Insbesondere einer Werft in Flensburg ging es gar nicht gut und wir wollten, dass HDW diese Werft übernimmt. Dem haben sie zunächst zugestimmt, aber so ganz habe ich dem Braten nicht getraut. Also habe ich parallel und vertraulich nach Alternativen gesucht und mit einem Reeder aus Lübeck namens Oldendorff über eine mögliche Übernahme der Flensburger Werft verhandelt, ohne dass HDW davon erfahren hat. Tatsächlich haben diese Halunken in letzter Minute die Übernahme platzen lassen in der Hoffnung auf diesem Wege einen lästigen Konkurrenten loszuwerden. Aber die Oldendorff-Altemative hat tatsächlich funktioniert und die Leute von HDW waren düpiert.

Ich bin dann mit einer Wirtschaftsdelegation nach China gereist und habe dort die Dankbarkeit der chinesischen Regierung zu spüren bekommen. Sie haben nämlich die Flensburger Werft mit Aufträgen bedient, die diese für mehrere Jahre saniert haben. Oldendorff hat sie im Jahr 2008 wieder verkauft und es gibt sie heute noch mit immerhin 700 Arbeitsplätzen. Bald darauf haben wir unseren Anteil an HDW verkauft und mit dem Geld eine Technologiestiftung gegründet. Es war keine Frage, wer diese leiten sollte, nämlich Klaus P. Friebe. Das hat er dann auch viele Jahre und mit großem Erfolg gemacht. Es dauerte nicht lange bis auch der erste Krach mit Engholm vorprogrammiert war. Ich bin zwar nicht mutig, aber gelegentlich leichtsinnig. Damals war der Flughafen in Hamburg Fuhlsbüttel noch nicht ausgebaut und über Jahre hinweg war ein alternativer Standort in Kaltenkirchen, einem Ort in Schleswig-Holstein, diskutiert worden. Die Genossen wollten das nicht, aber ich habe in meinem Leichtsinn öffentlich erklärt, dass ich diese Lösung für gut hielte, denn Fuhlsbüttel liege inmitten von Wohngebieten und ein Absturz nach dem Start hätte verheerende Folgen. Daraufhin hat mich Engholm zur Schnecke gemacht und ich bin vorsichtiger geworden.

Kiel hat auch einen kleinen Flughafen in Holtenau. Bald nach Engholms Antritt hatte sich ein italienischer Fernsehsender bei ihm angemeldet, um den neuen Star an Deutschlands Politikerhimmel zu interviewen. Wir saßen in Engholms Büro und warteten auf die Landung der Privatmaschine der Journalisten. Dann kam die Meldung, ihre Maschine sei infolge des schlechten Wetters über die Landebahn hinausgeschossen und es gäbe Tote und Verletzte. So war es auch und wir haben dann die Überlebenden im Krankenhaus aufgesucht, in das sie gebracht worden waren. Eine Stewardess war aus der Maschine geschleudert worden und hatte den Absturz nicht überlebt. Es ist gar nicht so einfach, aus den Geschichten, die ich in Kiel erlebt habe, die herauszugreifen, welche die Fallstricke und Erfolge, die ich dort erleben durfte, möglichst plastisch machen.

Vier Geschichten will ich noch herausgreifen, bevor ich zu der Zeit komme, in der ich selbst als Minister agieren durfte. Denn sie zeigen ganz schön, mit welchen Bandagen gelegentlich gefochten wurde und wie uns Engholm Volksnähe beigebracht hat.

Die erste Geschichte handelt noch einmal von dem Vorgänger von Engholm. Uwe Barschel war eine sehr problematische Figur und er hat mit allen Mitteln versucht, seine Macht zu erhalten. Später hat er dann Selbstmord begangen, wobei sich hartnäckig das Gerücht hält, dass er eigentlich ermordet worden wäre, da er in Waffengeschäfte verstrickt war und angeblich gedroht hat auszupacken. Aber so weit sind wir noch nicht. Barschel, noch im Amt, war in einer kleinen Privatmaschine auf dem Rückflug von Bonn nach Lübeck, als der Tower in Hamburg seinen Piloten warnte, Lübeck anzufliegen. Das Wetter sei zu schlecht. Angeblich hat ihn Barschel, der bei Lübeck wohnte, gezwungen, trotzdem nicht etwa in Kiel, sondem in Lübeck zu landen. Dabei stürzte die Maschine ab, der Pilot kam ums Leben und Barschel überlebte schwer verletzt. Kurz nachdem ich ins Amt gekommen war, hatte ich mir vorgenommen, die Angelegenheit aufzuklären, denn der Witwe des Piloten war wegen dessen Mitschuld die Hinterbliebenenrente gekürzt worden. Die Frage war also, was hatte sich nach dem Überfliegen von Hamburg in der Maschine abgespielt? Dazu habe ich den zuständigen Referenten im Ministerium gebeten, mir einen Ausdruck der Gesprächsprotokolle mit dem Tower in Hamburg bis zur Katastrophe in Lübeck zu besorgen. Das tat er auch, aber ausgerechnet die kritischen Passagen fehlten im Protokoll. Der Referent war vorher Büroleiter von Barschel gewesen und ich habe ihn verdächtigt, das selbst veranlasst zu haben. Also habe ich bei der Flugsicherung in Braunschweig nachfragen lassen. Dort allerdings war ausgerechnet dieses Protokoll, angeblich versehentlich, gelöscht worden. Am Ende musste ich aufgeben.

In der zweiten Geschichte konnte ich einen Erfolg verbuchen. Schläfrig-Holstein, wie böse Zungen es nannten, war, was sein Schienennetz anging im Rückstand. Es gab keine Elektrifizierung und damit konnten die Züge aus Westdeutschland nicht nach Kiel oder Flensburg weiterfahren, weil dafür eine Diesellok benötigt wurde. Dänemark hatte allerdings seine Strecken auch noch nicht elektrifiziert und darauf komme ich noch. Zunächst ging es also darum, die Hauptstrecke von Hamburg nach Kiel und Flensburg zu elektrifizieren. Die Bahn, mit der ich lange verhandelt habe, stellte sich auf den Standpunkt, das sei viel zu teuer und sie würden es nur in Angriff nehmen, wenn das Land sich mit 150 Millionen DM beteiligte und der Bund die restlichen Kosten zu übernehmen bereit sei.

Und hier kam Austermann, der Haushaltsexperte, wieder ins Spiel. Gemeinsam mit ihm haben wir eine Strategie verabredet, um die Finanzierung der Elektrifizierung durch Bund und Länder sicher zu stellen. Das gelang auch in einem Überraschungsangriff, obwohl meine spätere Kollegin Heide Simonis das als Geldverschwendung ansah. Die Strecke wurde elektrifiziert, und ausgerechnet einige FDP-Abgeordnete reichten dagegen Klage ein. Sie hatten ihr Haus in der Nähe der Strecke und fürchteten mehr Lärm wegen der höheren Geschwindigkeit der Züge.

Wie schwachsinnig nationale Politik gelegentlich funktioniert, will ich noch kurz am Beispiel der Elektrifizierung der dänischen Bahn erzählen. Dazu müsst Ihr wissen, dass es in Europa zwei unterschiedliche Normen für die Stromversorgung gibt, nämlich in Deutschland und Schweden 162/3 Hertz und in Frankreich 50 Hertz. Um ihre Unabhängigkeit zu betonen entschied sich Dänemark für die französische Norm. Damals gab es noch keine Lokomotiven, die mit beiden Frequenzen fertig wurden. Also musste an der deutsch-dänischen Grenze eine neue Lok vorgespannt werden und an der dänisch-schwedischen Grenze ebenfalls.

Die dritte Geschichte zeigt Engholm und die Erziehungsmethoden in seinem Kabinett. Er ordnete nämlich an, dass alle Minister und Staatssekretäre einmal im Jahr einen sogenannten Erlebnistermin zu absolvieren hatten. Wir sollten Menschen besuchen, die mit unserer Zuständigkeit nichts zu tun hatten und vor Ort ihre Probleme kennenlernen. Da ich mich schon immer für biologische Landwirtschaft interessiert und diese in unserem Garten auch betrieben habe, suchte ich mir eine Bauemfamilie, die nach dem Prinzip von Demeter ihren Bauernhof betrieb. Der Bauer war ein ehemaliger Siemensingenieur, der von seinem Vater einen konventionellen Bauernhof geerbt hatte. Bei Kaffee und Kuchen erzählte mir seine Frau von einer Abmachung mit ihrem Mann vor der Hochzeit, wonach sie in München leben würden und auf keinen Fall einen Bauernhof betreiben würden. Als er nach dem Tod seines Vaters den Bauernhof erbte, haben sie lange diskutiert und sich dann doch entschlossen haben, alles aufzugeben, um den Hof auf biologische Art zu betreiben. Mir haben die Leute imponiert. Auf Demeterhöfen darf man nichts zukaufen, sondern muss zum Beispiel die Düngung selbst produzieren, ein schwieriger Umstellungsprozess. Offenbar ist es ihnen gelungen, und ich habe zum Beispiel dort gelernt, wie man Möhren aussät und erntet. Möhren brauchen lange, bis sie keimen und in der Zeit wächst das Unkraut alles zu. Deshalb haben sie 14 Tage nach der Aussaat den Lötkolben genommen und das Unkraut abgebrannt. So kamen die Möhrenpflänzchen ungehindert ans Licht und gingen wunderbar auf. Na und so weiter. Die Beiden meinten, sie hätten sich einen Politiker ganz anders vorgestellt, ein Kompliment, welches ich mir gemerkt habe.

Die vierte Geschichte handelt ebenfalls von einem Erlebnistermin, dieses Mal in einem Gefängnis in Neumünster, ein Gefängnis, welches übrigens oft im Fernsehen gezeigt wird, denn es sieht noch genau so aus, wie man sich ein klassisches Gefängnis eben vorstellt. Ich habe dort zwei jugendliche Insassen besucht. Der erste war ein sehr begabter Hamburger Fußballspieler, der leider auf die schiefe Bahn eines Drogendealers geraten war. Als man ihn schließlich festnahm, wollte er sich gerade mit seinem Stoff auf ein Schiff retten aber man erwischte ihn rechtzeitig. Er war ein hübscher Kerl und froh, in seiner Zelle mit jemandem reden zu können. Er hat mir seine Geschichte erzählt, wie immer spielten alte Freunde eine Rolle, und er war am Ende sehr enttäuscht, als ich ihm sagte, dass die Zeit abgelaufen sei. Ich hoffe, er hat sich wieder gefangen. Der zweite war ein ganz anderer Typ, sah aus wie ein Schläger und hatte seine Zelle vollständig mit Bildern von nackten Frauen tapeziert. Er war Metzger von Beruf und beklagte sich bitter, dass er beim Tod seines Stiefvaters nur in Handschellen an der Beerdigung teilnehmen durfte, Er brach, als er davon erzählte, in Tränen aus. Offenbar war er weniger hart, als er sich gab. Sein Verbrechen war, dass er ein Asylbewerberheim angezündet hatte. Dann wurde Engholm im Jahr 1992 wieder gewählt und zwar mit einem erstaunlichen Ergebnis. Die SPD gewann erstmalig alle Wahlkreise in Schleswig-Holstein. Wir hätten also, wenn nicht das Verhältniswahlrecht, sondern ein Mehrheitswahlrecht gegolten hätte, alle Sitze im Landtag besetzt. Das muss man sich einmal vorstellen. Es galt aber das Verhältniswahlrecht, und so kamen auch einige Verrückte der rechtsextremen DVU ins Parlament, die sich durch ganz merkwürdige Zwischenrufe auszeichneten, weil sie völlig unverständlich waren. Von einem dieser Parlamentarier will ich kurz erzählen. Er war von Beruf Schornsteinfeger, was im Grunde ein auskömmlicher Beruf ist. Allerdings stieg er immer wieder sturzbetrunken aufs Dach, wurde suspendiert und machte große Schulden. Umso erfreulicher, dass er nun als Abgeordneter wieder Geld verdienen konnte. Als er erfuhr, dass er das Abgeordnetengehalt nicht behalten durfte, weil es gegen seine Schulden aufgerechnet werden sollte, traf ihn der Schlag.

Als Minister hatte ich einige Konflikte am Hals, aber als Unterstützung, wie ich fand, einen tüchtigen Staatssekretär, namens Peer Steinbrück. Ich bin immer noch felsenfest davon überzeugt, dass er nicht gegen mich intrigiert hat, auch wenn er ein sehr gutes Verhältnis zum langjährigen Staatssekretär von Heide Simonis pflegte und mich später beerbt hat. Ein umstrittenes Thema war die sogenannte Elbquerung, also eine weitere Straßenquerung der Elbe westlich von Hamburg. Die SPD war massiv dagegen, weil sie insgesamt dem Straßenverkehr kritisch gegenüberstand. Der Bund war dagegen, weil es ein sehr teures Projekt war. Und Hamburg hielt nicht viel davon, weil es zu einer Aufwertung des Hafens und des Industriegeländes im Raum Brunsbüttel führen würde und sie eine Schwächung der Wirtschaftskraft von Hamburg fürchteten. Als Minister, der auch für Verkehr verantwortlich war, habe ich das Problem nach meiner Meinung geradezu salomonisch gelöst, ich habe nämlich ein Projekt vorgeschlagen, bei dem nicht nur der Straßenverkehr,  sondern auch der Schienenverkehr in eine solche Elbquerung einbezogen werden sollte. Dazu müsst Ihr wissen, dass es in Brunsbüttel ein ganz beachtliches Chemieindustriegelände gibt, welches darunter litt, dass seine Produkte auf dem Landweg per Schiene durch das Nadelöhr Hamburg geleitet werden mussten. Mit einer Schienenquerung westlich von Hamburg hätte dieses Industriegebiet einen beachtlichen Aufschwung genommen, ganz zu schweigen davon, dass der Hafen in Brunsbüttel eine beachtliche Attraktivität für das Umladen vom Schiff auf die Schiene entfaltet hätte. Allerdings war das nun weder im Sinne von Hamburg, noch konnten die von Gerhard Schröder regierten Niedersachsen sich damit anfreunden. Als besonders wirksames Gegenargument galten die Biber, die in einer Gegend Niedersachsens siedelten, welche durchquert werden musste. Folgerichtig wurde das Projekt im Bundesverkehrswegeplan, welcher alle überregionalen Großprojekte in einer langfristigen Planung enthält, nicht mit der notwendigen höchsten Priorität versehen. Aber ich hatte immerhin den Streit mit der SPD in Schleswig-Holstein vom Tisch.

Ein anderes Projekt, welches ebenfalls sehr umstritten war, trug den schönen Namen Ostseeautobahn. Die Ostseeautobahn sollte den Verkehr zwischen Mecklenburg-Vorpommern über Schleswig-Holstein nach dem Süden Deutschlands bündeln. Darauf komme ich gleich. Aber vorher will ich doch noch eine Geschichte erzählen, die durch die Wiedervereinigung aktuell geworden war, auch wenn ich dazu zwei Jahre zurückgehen muss. Denn sie hat ähnliche Wurzeln, wenn auch ganz im Kleinen gesehen. Es gibt an der Ostgrenze von Schleswig-Holstein einen kleinen Ort namens Schlutup, der zu Lübeck gehört. Vor der Grenzöffnung zur DDR war der Verkehr durch den Ort mäßig, wenn auch unangenehm, denn der Mülltransport aus der Bundesrepublik auf eine Giftmüllkippe in der DDR floss direkt durch das Dorf. Das änderte sich mit der Grenzöffnung schlagartig. Eine endlose Schlange von Leuten in Trabis und Wartburgs kämpfte sich durch den Ort, um im Westen einzukaufen. Für das Land war das ein regelrechter Konjunkturschub, aber die Anwohner konnten ihr Auto nicht mehr benutzen, denn sie wussten nicht, wann und ob überhaupt sie in dem Verkehr wieder ihr Haus erreichen würden. Der Krach und Gestank war unerträglich. Also forderten die Anwohner eine Ortsumgehung und die Landesregierung wurde verantwortlich gemacht. Wir haben dann eine geeignete Umgehungstrasse auf dem ehemaligen Grenzstreifen gefunden. Sie führte allerdings in einer Entfernung von hundert Metern an einigen schönen und sicherlich kostspieligen Häusern vorbei und deren Besitzern passte es gar nicht, dass auf einmal der Verkehrslärm, wenn auch gedämpft, bis zu ihnen dringen würde. Das wäre mit dem geltenden Planungsrecht ein langwieriger Prozess geworden. Ich erinnere mich an eine Bürgerversammlung, in der es hoch herging zwischen Befürwortern und Gegnern der Umgehung von Schlutup. Als ich allerdings eine Abstimmung der Anwesenden vorgeschlagen habe, wandten sich auf einmal alle gegen mich. So könne man das Problem nicht lösen. Dafür seien wir Politiker da. Einige Aktivisten haben dann sehr zum Ärger meines Fahrers die Reifen unseres Dienstwagens durchgestochen.

Also haben wir uns etwas einfallen lassen. Nach der Grenzöffnung, aber vor der Wiedervereinigung galt ja im Osten noch das Planungsrecht der DDR und die hatte mit der Bürgerbeteiligung nichts am Hut. Wir haben auf dieser rechtlichen Grundlage die Trasse auf dem Grenzstreifen geplant und den ersten Spatenstich genau einen Tag vor der Wiedervereinigung vorgenommen, als das Planungsrecht der Bundesrepublik auch im Osten in Kraft trat. Ich vermute, es wurde das am Schnellsten realisierte Umgehungsstraßenprojekt in Deutschland und die Schlutuper konnten bald wieder mit dem eigenen Auto fahren, ohne von Trabis und Wartburgs eingekesselt zu werden. Das führt nun zum Thema Ostseeautobahn. Solange sie nicht gebaut wurde, floss der größte Teil des Autoverkehrs mitten durch Lübeck und es war abenteuerlich, zum Beispiel von Kiel nach Wismar mit dem Auto fahren zu wollen, auch nach Fertigstellung der Umgehung von Schlutup. Mein Fahrer pflegte zum Teil auf Feldwegen die schlimmsten Stellen zu umfahren und das war relativ oft notwendig. Denn Engholm hatte sich engagiert, der Politik in Mecklenburg-Vorpommern auf die Sprünge zu helfen. Am Anfang waren noch reformorientierte Gesprächspartner der SED dabei, aber die verschwanden nach und nach, bis dann irgendwann Leute wie der spätere Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern Ringstorff und seine Freunde unsere Partner wurden.

Vor allem der rasch ansteigende Wirtschaftsverkehr, aber auch der Tourismus verlangte nach einer baldigen Lösung. Trotzdem war das Projekt Ostseeautobahn, auch in der regierenden SPD, umstritten. Auf einem Parteitag in Lübeck haben wir gleichwohl mit knapper Mehrheit einen Beschluss gefasst, die Ostseeautobahn zu bauen, zumindest als Umgehung des Ballungszentrums Lübeck und dann weiter nach Osten, Richtung Rostock. Die Autorität von Engholm hat selbst seinen widerspenstigen Umweltminister Heydemann am Ende überzeugt und wir haben uns zum Schluss an den Händen gefasst und gemeinsam „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ gesungen. Die Frauenministerin hat die Brüder durch Schwestern ersetzt.

Damit ging der richtige Krach aber erst los. Zunächst habe ich ein Umweltverträglichkeitsgutachten in Auftrag gegeben. Ich dachte, das müsste einfach sein, denn der Verkehr mitten durch Lübeck war so etwas von umweltfeindlich, wenn man zur Umwelt auch die Menschen zählt. Dann hat Engholm einen ehemaligen Umweltsenator aus Hamburg namens Kuhbier als Moderator vorgeschlagen, denn es gab zahlreiche Einwände und merkwürdige Koalitionen aus Zahnarztgattinen (mit Häusern nahe der angedachten Trasse) und bärtigen Umweltaktivisten mit festen Überzeugungen. Der Moderator Kuhbier hat sich dann tatsächlich in seinem Abschlussbericht nicht moderat zurückgehalten, sondern gegen die Ostseeautobahn votiert.

Hier muss ich noch eine kuriose Geschichte einflechten. Um Kuhbier besser kennen zu lernen, hatte ich ihn in meine Wohnung eingeladen und ein gutes Essen gekocht. Daraufhin brachte die oppositionelle FDP eine Kleine Anfrage ein, deren Text ich vergessen habe. Jedenfalls hat der große Politiker und Abgeordnete Kubicki kräftig gegen mich und das Essen gewettert und ich kann beim besten Willen nicht mehr sagen warum. Er vermutlich auch nicht. Sonst ging es im Landtag sehr zivil zu, mehr wie in einer einigermaßen gesitteten Schulklasse. Ich erinnere mich noch, dass eine Rednerin der FDP, die ich immer sehr nett fand, bevor sie auf dem Podium mit einer Philippika gegen mich anfing, an meinem Platz vorbeikam, um sich dafür vorsorglich zu entschuldigen. Wie findet Ihr das? Ich habe mich in meinen Reden kurz gefasst, aber immer ein Zitat, am Besten ein Gedicht eingefügt, während die Finanzministerin Simonis, die auf der Regierungsbank neben mir ihren Platz hatte, während einer Rede von mir grundsätzlich in einem dicken Buch las. Als ich später von ihr gefeuert und Peer Steinbrück mein Nachfolger wurde, war das Planfeststellungsverfahren zur Ostseeautobahn auf gutem Wege und auch die Gegner hatten sich weitgehend abgefunden.

Eine Anekdote fällt mir noch ein, die ich als Abschluss der Beschreibung meiner Verkehrsministerlaufbahn noch anhängen will. Mitten in der Auseinandersetzung um die Ostseeautobahn erhielten wir morgens einen Anruf vom Regionalfernsehen, dass in Kürze vor unserem Ministerium eine Aktion der Gegner starten würde. Als ich vor das Ministerium trat, warfen diese zunächst einen Motor an, der einen infernalischen Lärm machte und die Autobahn fürs Fernsehen erfahrbar machen sollte, das natürlich rechtzeitig zur Stelle war. Dann steuerte ein Lastwagen auf uns zu und hielt direkt vor dem Eingang. Ein Polizist wollte noch den Fahrer herausziehen, aber der hatte schlauerweise seine Tür verriegelt. Er betätigte dann einen Hebel und lud damit einen großen Haufen Mist vor unserem Eingang ab, sehr zur Freude der anwesenden Journalisten. Ich wurde interviewt, wie mir das gefiele und mir fiel ein, dass wir hinter dem Ministerium ja einen großen Garten hatten. Also habe ich mich für die kostenlose Lieferung von Dünger bedankt. Ihr seht, eigentlich waren unsere Gegner witzig und nett, auch wenn sie einem gelegentlich auf die Nerven gehen konnten.

Tatsächlich habe ich, obwohl ich für Wirtschaft, Technik und Verkehr zuständig war, mich überwiegend mit Verkehrsprojekten befassen müssen. Bei Verkehrsprojekten, insbesondere bei Ortsumgehungen, gibt es in der Regel mehrere Bürgerinitiativen, darunter immer einige, die dafür sind, weil der Verkehr durch enge Ortsstraßen eine schlimme Sache ist, und andere, die dagegen sind, weil die Landschaft oder ihre Häuser durch die Umgehung beeinträchtigt werden. Verkehrsprojekte, mit denen alle zufrieden sind, gibt es nicht. Als Wirtschaftsminister (und als Staatssekretär) ging es mir gut, weil durch die Wiedervereinigung die Wirtschaft in Schleswig-Holstein einen kräftigen Aufschwung nahm und wir auch sonst mit Hilfe einer gelungenen Ansiedlungspolitik und mit Förderprogrammen für benachteiligte Regionen eine gute Figur machen konnten. Schleswig-Holstein rückte in dieser Zeit im Ländervergleich einige Plätze rauf. Dabei spielte auch eine Rolle, dass wir damals jedes Jahr die Spitzen der deutschen Industrie, zusammen mit Vertretern aus Dänemark und Schweden im Sommer zu Gast hatten und dabei auch Justus Frantz und sein Schleswig-Holstein Musik Festival uns hilfreich zur Seite standen.

Es ging in der Wirtschaftspolitik meist um eher kleinteilige Vorhaben, wie die Rettung von in Schwierigkeiten geratenen Unternehmen durch Landesbürgschaften, oder auch um neue Unternehmen, deren Gründung wir unterstützen konnten. Als ich vor einem Jahr in Lübeck eingeladen war, kam ein solcher Unternehmensgründer auf mich zu und meinte, er habe die Bewilligung eines Gründungszuschusses mit meiner Unterschrift noch in seinem Büro hängen und jetzt habe sein Unternehmen einige hundert Mitarbeiter. Das fand ich rührend. Einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Schleswig-Holstein war und ist der Tourismus und der fiel auch in meinen Verantwortungsbereich. Eines Tages besuchte ich die schöne Insel Amrum. Es ging, wenn ich mich recht erinnere, um einen Radweg entlang der einzigen großen Straße der Insel. Dabei fiel mir auf, dass parallel zu dieser Straße ein Wirtschaftsweg für die Bauern existierte. Daraufhin habe ich den Amrumern vorgeschlagen, ein Schild mit einem Fahrrad anzubringen, welches Radfahrer auf diesen Wirtschaftsweg verweist. Die Inselbewohner sind aber ein stures Volk und sie waren damit nicht einverstanden. Die Nordfriesen wollten einen Radweg an der Straße. Sie lehnten auch eine Zimmervermittlungssoftware ab, die wir extra zur Förderung des Tourismus entwickelt hatten und erst zu später Stunde, als alle ordentlich gesoffen hatten, gaben sie schließlich den Grund dafür an. Leider kann ich es nicht auf plattdütsch verteilen. Der Grund war ganz einfach. Und was glaubt Ihr, warum sie diese Art der Zimmervermittlung partout nicht wollten? Weil damit genau registriert werden konnte, wie häufig sie den Touristen Geld für die Zimmervermietung abknöpften. Die hohen Steuern, Du blasse Minsch aus der Hauptstadt!

Landespolitik ist eine wunderbare Sache, wenn man die Leute mag. Auf einer anderen Insel, nämlich Pellworm, war ich populär geworden, weil das Ministerium Geld zur Ausbaggerung des Hafens bewilligt hatte, der sonst nur bei Flut angelaufen werden konnte. Damit auch die Wirtschaft der Insel in Schwung kommt, habe ich ihnen abends beim Schnaps von den berühmten Hühnern aus der Bresse erzählt, die man teuer verkaufen könne. Das hat den Leuten gefallen und ein Jahr später tauchte eine Pellwormer Delegation mit einer großen Plastiktüte in meinem Büro auf. Darin befand sich ein wohlgenährtes totes Huhn. Es sollte der Anfang für eine neue Karriere von Hühnern der Insel Pellworm werden. Leider war dafür der Landwirtschaftsminister zuständig und so konnte ich das Projekt nicht fördern. Sie hatten das Huhn „Thomashuhn“ genannt und ich weiß heute noch nicht, ob sie mich nur veräppeln wollten. Jedenfalls hat es vorzüglich geschmeckt.

Damit Ihr einen Begriff von bürgemaher Politik bekommt, erzähle ich noch zwei weitere Heldentaten von mir. Eines Tages lag ein handgeschriebener Brief auf meinem Schreibtisch, in dem eine Frau ihr Leid klagte. Ihr Mann sei von Beruf Pflasterer und könne seinen Beruf nicht ausüben, weil die Handwerkskammer die Genehmigung verweigere. Die habe ich angerufen und tatsächlich wurde ausnahmsweise, keine Ahnung warum, die Genehmigung erteilt. Daraufhin erhielt ich einen zweiten Brief, in dem die Frau mir erzählte, wie glücklich ich ihren Mann gemacht habe. Ehrlich, das hat mich gefreut.

Die zweite Heldentat war die Lösung des Problems der Bullenampel. Ein Bauer hatte einen großen Hof an einer Straße. Er hatte seit Jahren für eine Bullenampel, wie sie im Ministerium hieß, gestritten. Denn seine Wiesen lagen auf der anderen Seite der Straße und deshalb wollte er unbedingt eine Ampel haben, damit die Kühe sicher auf ihre Wiese kommen konnten. Ich habe ihn gefragt, wie oft die Tiere die Straße queren müssten und er meinte, das sei zweimal im Jahr erforderlich. Wir haben ihm dann versprochen, dass er die Polizei anrufen könne. Die würde den Kraftverkehr solange anhalten, bis die Kühe sicher über die Straße gekommen wären. Das fand er zwar nicht so schön wie eine Ampel, aber schließlich hat er sich damit zufrieden gegeben.

Für das Ende meiner landespolitischen Karriere ist Björn Engholm verantwortlich. Erstens, weil er zurückgetreten ist und an seiner Stelle meine Intimfeindin Heide Simonis Ministerpräsidentin wurde. Zweitens, weil es kurz vorher zu einem offenen Konflikt gekommen war. Die Heide wollte unbedingt die Landesbank von Schleswig-Holstein an die Westdeutsche Landesbank verkaufen, mit dessen Chef sie gute Beziehungen unterhielt. Engholm war skeptisch und fragte mich nach meiner Meinung. Ich meinte, eine norddeutsche Lösung sei vorzuziehen und wiederholte diese Meinung bei einem Treffen in unserem Gästehaus. Im Keller saßen unsere Fahrer und, wie mir der meinige danach erzählte, hätten sie auf einmal ein wildes Schreien gehört, welches sie in Unruhe versetzt hätte. Heide Simonis hatte zu meiner Verblüffung einen absolut hysterischen Wutanfall, da sich Engholm auf meine Seite schlug, was sie nicht erwartet hatte. Sie hat übrigens Engholm nach seinem Rücktritt ziemlich schäbig behandelt und sich damit keine Freunde gemacht. Eine hat späte Rache an ihr genommen und ihre Laufbahn beendet.

Bevor ich nun die Rückkehr in mein altes Bonner Ministerium vor Euch ausbreiten werde, will ich doch noch kurz von einer Begegnung mit Helmut Schmidt erzählen und auch zu Oskar Lafontaine und Peter Glotz einige Bemerkungen machen.

9. Begegnung mit Helmut Schmidt

Ich hatte Helmut Schmidt als Bundeskanzler immer nur von der Ferne erlebt, zum Beispiel in der Kabinettssitzung, von der ich schon erzählt habe. In Schleswig-Holstein hatte ich dann Gelegenheit, mich mit ihm ein wenig länger zu unterhalten. Da war er schon längst nicht mehr im Amt. Er hatte das Schleswig-Holstein-Musikfestival besucht und, wenn ich mich recht erinnere, mit seinen kurzen dicken Fingern sehr schön auf der Hausorgel eines Musikfreundes gespielt. Wir kamen dann darauf, warum ich für einige Tage, ich war noch nicht lange Staatssekretär in Kiel, regelmäßig in den Abendnachrichten im Fernsehen auftauchte. Der Grund war, dass ein holländisches Schiff in einen schleswig-holsteinischen Hafen eine Art Notaufnahme gefunden hatte. Sie hatten Fässer mit extrem gesundheitsschädlichem Gift geladen und die waren ausgelaufen. Wir mussten versuchen, ohne Gefährdung der Bevölkerung das Problem zu entschärfen, ein schönes Thema für die Fernsehnachrichten.

Ich hatte einen Krisenstab gebildet, welcher die Maßnahmen koordinieren sollte und einen Mitarbeiter von Greenpeace mit dazu geladen. Dieser bekam übrigens anschließend Schwierigkeiten mit seinem Chef, weil er konstruktiv mitgearbeitet hatte, aber das ist eine andere Geschichte. Seither stehe ich Greenpeace etwas skeptisch gegenüber. Ich habe also Helmut Schmidt in kurzen Worten die Geschichte erzählt. Dann habe ich ihn erwartungsvoll angeschaut, ob er noch weitere Fragen hätte, etwa, wie gefährlich das Gift war und auf welchem Weg wir damit fertig geworden waren. Zu meiner Überraschung hatte er nur eine Frage: Wieso ich als Staatssekretär den Krisenstab geleitet hätte. Nun, Franz Froschmaier war in Italien in Urlaub und ich hatte ihn natürlich telefonisch informiert und gesagt, ich hätte alles im Griff. Bei dieser Publizität, meinte Helmut Schmidt, wäre das aber doch für meinen Minister eine schöne Gelegenheit gewesen, um bundesweit bekannt zu werden. Er hätte seinen Urlaub abbrechen müssen, meinte Helmut Schmidt.

Das war das Einzige, was ihn daran wirklich interessiert hat und ich fand das damals schon sehr merkwürdig. Ich glaube fast, ich habe ihm das auch vorsichtig zu verstehen gegeben. Er hätte ruhig ein paar freundliche Worte zu meiner Umsicht finden können, mit der ich die Sache behandelt hatte, fand ich in meiner Naivität. Heute sehe ich das anders. Das bisschen Gift war für ihn, der bei ganz anderen Problemen hatte Lösungen finden müssen, eher unbedeutend. Und deshalb interessierte ihn viel mehr die Frage, was mein Minister daraus in den Medien hätte machen können. Helmut Schmidt war in seiner Zeit als Bundeskanzler und auch schon vorher als Innensenator bei der katastrophalen Flut in Hamburg ein überragender Krisenmanager. Dafür habe ich ihn bewundert. Er konnte zudem hervorragend mit den Medien umgehen und wenn er sprach, ließ man gern das Essen stehen, um ihm zuzuhören.

Leider hat er als Integrationsfigur beim Zusammenhalten der SPD nach meiner Auffassung versagt, ähnlich wie später Gerhard Schröder. Unter Willy Brandt hätte sich der Realoflügel der Grünen möglicherweise innerhalb der SPD ausgetobt und die Demokraten unter den Linken hätten ebenfalls in der großen alten SPD eine Heimat finden müssen, wie es Oskar Lafontaine beim Zusammenbruch der DDR vorgeschwebt hatte. Mehr Demokratie wagen, wie es Brandt einmal ausgedrückt hat, das hätte vielleicht sogar die Piraten angezogen. Eigentlich war nur Engholm unter den Enkeln Willy Brandts eine solche Integrationsfigur und es ist ein Jammer, dass er wegen einer Lappalie zurücktreten musste. Wie Helmut Schmidt ihm aus Italien, um Rat gefragt, am Telefon sagte: wer sich die Suppe einbrockt, der muss sie auch auslöffeln.

Nach meiner Auffassung sollte die SPD für alle an Freiheit und Gleichheit Interessierten politische Heimat sein. Dann können sie gemeinsam um den besten Weg ringen, wobei am Ende nicht nur die Mehrheit entscheidet, sondern, was genau so wichtig ist, die Minderheit die Mehrheitsmeinung toleriert, ohne gleich alles in Frage zu stellen. Ein guter Parteivorsitzender muss integrieren und Streit aushalten können, wissend, dass die Minderheit im Laufe der Zeit recht behalten könnte. Nur auf diesem Wege ist eine große Partei auf lange Sicht mehrheitsfähig und vor allem das muss eine Integrationsfigur an der Spitze leisten Oskar war es nicht, obwohl auch er ein Menschenfischer ist. Zu ihm will ich noch ein kurzes Kapitelchen anfügen.

10. Oskar Lafontaine, die große Begabung der SPD

Er hat viel Hass und Häme erlebt. Wer sich im Krieg zu weit vorwagt, pflegte Matthöfer zu sagen, den schießen die eigenen Leute in den Hintern. Lafontaine hatte sich als Finanzminister mit der Finanzindustrie angelegt, in der Rückschau, muss man sagen, völlig zu Recht. Entsprechend war die Reaktion derjenigen, welche die Deregulierung der Finanzmärkte als große Leistung feierten und die daraus resultierende Finanzkrise nicht kommen sahen. Gerhard Schröder, der ihm eine geschlossene SPD im Wahlkampf zu verdanken hatte, ließ seinen presseerfahrenen Wadlbeißer, den Bundesminister für besondere Aufgaben Bodo Hombach, auf ihn los, der immer wieder mit gezielten Indiskretionen Stimmung gegen ihn machte. So wurde es jedenfalls kolportiert. Bis Oskar Lafontaine die Querschüsse satt hatte und sich Knall auf Fall aus der Bundesregierung und sogar aus dem Parteivorsitz verabschiedete. Er sei aus der Verantwortung geflüchtet, hieß es. Ja, was hätte er denn machen sollen, seine Differenzen mit dem Bundeskanzler offenlegen und die Partei spalten? Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, als Parteivorsitzender dem Bundeskanzler Schwierigkeiten zu bereiten, aber er hat darauf verzichtet und sich lange Zeit in Schweigen gehüllt. Merkwürdigerweise wurde ihm dieses Verhalten von den meisten Kommentatoren angekreidet. Ich glaube fast, damals hat der lange Abschied aus seiner Partei begonnen.

Schon bei der Voraussage der immensen Kosten der deutschen Einheit hatte er Recht behalten, aber nicht bekommen. Er war einer der wenigen Politiker, die das Gerede von den sehr bald blühenden Landschaften in Ostdeutschland als Illusion gebrandmarkt hatte und sich gegen die schnelle Einführung einer Währungsunion stellte. Dabei lag es eigentlich auf der Hand, dass die schnelle Einführung einer gemeinsamen Währung zum totalen Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie führen musste. Sie hat im Ergebnis die Verschuldung Deutschlands in eine neue Dimension geführt. Im Rückblick hat der Physiker Lafontaine dann allerdings selbstkritisch festgestellt: „Ich habe die Einheitseuphorie unterschätzt, das rationale Argument schlichtweg überschätzt.“ Nun, euphorisch war ich als ehemaliger Ossi auch. Gegen die Währungsunion hat übrigens im Bundesrat nicht nur das Saarland gestimmt, sondern auch das von Gerhard Schröder geführte Niedersachsen. Nun, das ist Geschichte. Eine Geschichte, von der die ostdeutsche Linke (die ehemalige PDS), aber nicht die ostdeutsche SPD bis heute profitiert.

Er hat wohl auch klarer gesehen als die meisten, dass die Verteidigung deutscher Interessen am Hindukusch, wie sich ein deutscher Verteidigungsminister einmal ausgedrückt hat, früher oder später in eine Krise münden wird. Aber so ist es in der Politik. Wer recht hat, aber nicht recht bekommt und das nicht mehr ändern kann, tut besser daran zu schweigen. Rechthaber sind nicht beliebt, gerade dann, wenn sie recht haben. Denn dann gehen sie den Leuten nur noch auf die Nerven. Noch ist das letzte Wort in Afghanistan allerdings nicht gesprochen und im Interesse der Menschen dort mag man hoffen, dass am Ende Lafontaine sich wenigstens in diesem Punkt geirrt hat.

Wenn diese Bemerkungen über Oskar Lafontaine scheinbar ein positives Bild von ihm zu zeichnen versuchen, so trügt der Schein. Ich, für meine Wenigkeit, habe ihm die Abwendung von der SPD übel genommen, zumal ich seine klare Physikersicht sehr geschätzt hatte. Er hätte warten müssen, statt abtrünnig zu werden. Dann wäre seine Stunde gekommen, spätestens als die durch einen deregulierten Finanzmarkt ausgelöste Finanzkrise über uns hereingebrochen ist. Aber welcher Vollblutpolitiker kann schon warten.

Zum Schluss will ich noch eine kleine Geschichte erzählen. Als der Neue Markt, eine Börse zur Finanzierung junger Unternehmen am Aufblühen war, habe ich dem damaligen Chef der Frankfurter Börse Seifert vorgeschlagen, den Ministerpräsidenten des Saarlands, eben Lafontaine, zu einem Streitgespräch in die Börse einzuladen. Und zwar gemeinsam mit dem damaligen CDU-Finanzminister Waigel. Lafontaine hat, als ich ihn anrief, sofort zugesagt. Aber Waigel hat sich gedrückt. Zu Recht, denn Oskar hätte ihn in Grund und Boden geredet. Wenn es um Forschung und junge Unternehmen ging, war er immer Feuer und Flamme und das hätten seine Zuhörer gewiss gespürt und honoriert. Ich überspringe jetzt die vier Jahre, in der ich hauptsächlich in der Wirtschaft tätig war, allerdings nicht ohne an Peter Glotz zu denken. Ihn habe ich sehr gemocht und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit.

11. Koautor von Peter Glotz

Peter Glotz war zweifellos einer der klügsten Köpfe in der SPD. Er konnte großartig formulieren. Wir haben gemeinsam ein Buch geschrieben, „Das dritte Wirtschaftswunder“, in dem wir uns ausführlich mit der wirtschaftlichen Bedeutung der Gründung und Wachstumsfinanzierung junger Unternehmen befasst haben. Er hat seinen Teil auf Grund weniger Notizen morgens immer zwischen 4 und 7 Uhr diktiert und ich habe mich mit ungleich größerem Zeitaufwand abgemüht, meinen Teil zu verfassen und Literatur zu wälzen, denn Google war noch in weiter Ferne. Ein anderes Buch von Peter Glotz hieß „Die Arbeit der Zuspitzung“. Und zuspitzen konnte er wie kein anderer.

Als Peter Glotz im Schattenkabinett des SPD-Kanzlerkandidaten im Jahr 1994 als möglicher Forschungsminister benannt wurde, bat er mich, in diesem Fall als sein Staatssekretär mitzumachen. Nun, Scharping hat die Wahl äußerst knapp gegen Helmut Kohl verloren. Anders als vier Jahre später Gerhard Schröder. Auf die Rückkehr in das Forschungsministerium musste ich daher noch vier lange Jahre warten. Peter Glotz hat mich öfter zu sich nach Hause eingeladen. Dort fand sich eine erstaunliche Sammlung von Politikern. Sogar Graf Lambsdorff fand einmal den Weg dorthin. Joschka Fischer war ein regelmäßiger Gast. Ich erinnere mich, wie er, von mehreren Leuten umstanden, auf einem Stuhl sitzend, großartige Weltpolitik zu formulieren wusste. Peter Glotz ist viel zu früh, im Jahr 2005 gestorben. Ich vermisse ihn und seinen lebendigen Geist sehr. Das führt mich nun zu Edelgard Bulmahn, meiner Ministerin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, die ich immer noch verehre, auch wenn sie das nicht weiß.

12. Edelgard Bulmahn, ideenreich und klug

Eigentlich hatte ich als Vorsitzender der Geschäftsführung einer großen Weiterbildungseinrichtung einen ausgesprochen interessanten und gut bezahlten Job, in dem ich gelernt habe, wie es Arbeitslosen geht, die Arbeit suchen und sich fortbilden oder umschulen lassen, mit welchen Problemen Jugendliche aus sozial schwachen Familien, die eine Berufsausbildung suchen, sich herumschlagen müssen. Wir hatten auch Berufsbildungseinrichtungen in sechs deutschen Gefängnissen, damit Jugendliche nach ihrer Entlassung die Chance auf Arbeit erhielten. Deshalb habe ich zunächst gezögert, als mir Edelgard Bulmahn anbot, als Staatssekretär in ihr neues Ministerium einzutreten. Aber die Versuchung war doch zu groß und ich habe es nicht bereut, ihr nachgegeben zu haben.

In der Politik ist es wie im richtigen Leben. Meist kommt es nicht darauf an, wie etwas ist, sondern wie es erscheint. In der Landespolitik lässt sich das noch häufig zur Deckung bringen. Einem Pflasterer zu helfen, der nicht mehr pflastern darf, eine Ortsumgehung zu bauen, damit nicht länger die schweren LKWs mitten durchs Dorf brettern, oder ein Unternehmen retten, welches der wichtigste Arbeitgeber vor Ort ist, das sind ganz konkrete Aufgaben für die Politik, die sich leicht beschreiben lassen. In der Bundespolitik sind die Sachverhalte in der Regel kompliziert und umso beliebter sind einfache Erklärungen, die Stimmungen treffen, wie die beliebte schwäbische Hausfrau, die keine Schulden macht oder die Energiewende, bei der man nicht so genau weiß, wohin am Ende die Reise gehen wird.

Edelgard Bulmahn mochte die einfachen Erklärungen nicht. Sie wollte in ihren Pressekonferenzen den Journalisten genau erklären, worum es eigentlich geht. Wenn das aber länger als 10 Minuten in Anspruch nahm, sahen diese nicht mehr durch. Edelgard Bulmahn erschien ihnen immer verschwommener, wie auf dem Bild, und entsprechend schrieben sie über die Ministerin. Oder sie machten sich einfach still und leise davon. Das war eigentlich ihr einziges Handicap, denn sie selbst hat in der Regel die Probleme genau analysiert und ihre Ziele daraus abgeleitet.

In der Forschungspolitik sind die Beamtinnen und Beamten relativ mächtig, denn sie interpretieren diese Ziele und führen sie ziemlich selbständig aus. Vor allem kämpfen sie mit harten Bandagen um die dafür nötigen Haushaltsmittel. Näher dran an den Beamten ist naturgemäß der Staatssekretär. Wenn dann noch eine räumliche Trennung dazu kommt, die Ministerin mit einem kleinen Stab in Berlin residiert und das Ministerium ganz überwiegend in Bonn seine Arbeit tun muss, kommt es ganz automatisch zu Spannungen. Genau das war über mehrere Jahre unsere Situation. Ich hatte die Aufgabe, in der wöchentlichen Abteilungsleiterrunde die Ministerialen einzuschwören und sie musste deren Arbeit nach draußen verkaufen. Kleine Intrigen bleiben nicht aus und auch damit mussten wir fertig werden.

Zum Zwecke der Weiterbildung könnt Ihr Euch vielleicht einmal ein paar Episoden der britischen Sitcom „Yes Minister“ herunterladen und sehen, wie James Hacker, der tapfere Minister, und sein gewiefter Staatssekretär, Sir Humphrey Appleby miteinander gerungen haben. Mehr erzähle ich nicht. Schaut es Euch an. Ich will Euch auch nicht weiter mit grundsätzlichen Beschreibungen langweilen, sondern vielmehr einige konkrete Geschichten erzählen, die mir widerfahren sind.

Einmal die Woche trifft sich im Bundeskanzleramt die Runde der Staatssekretäre, die in dieser Zeit von Steinmeier geleitet wurde. Sie bereitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen vor. Diskussionen kontroverser Themen fanden allerdings kaum statt. Ein Beispiel war die große Steuerreform im Jahr 2000. Sie wurde wesentlich von einem der drei Staatssekretäre im Bundesfinanzministerium beeinflusst. Heribert Zitzelsberger war nach dem Abgang von Lafontaine vom neuen Finanzminister Eichel berufen worden. Er war vorher beim Pharmakonzem Bayer Leverkusen als Chef der Steuerabteilung tätig gewesen und wurde bei seinem Weggang vom Konzemchef mit den Worten verabschiedet: „Ich hoffe, dass er so von Bayer infiltriert worden ist, dass er die richtigen Wege einleiten wird.“ Das tat er höchst effektiv. Zahlten im Jahr 2000 die Unternehmen noch 23,6 Milliarden Euro Körperschaftssteuer, so lag das Aufkommen nach der Steuerreform in 2001 sogar im negativen Bereich. Die Unternehmen erhielten 400 Millionen Euro zurück, im Folgejahr sogar 1,3 Milliarden Euro. Das Bundesfinanzministerium war total überrascht.

Tatsächlich hatten wir im Forschungsministerium einen Beamten, der vorher Steuerinspektor gewesen war. Ihn hatte ich gebeten, mir auf einem Sprechzettel aufzuschreiben, welche Folgen seiner Meinung nach die Steuerreform haben würde. Offenbar konnte er besser rechnen als die Leute im Bundesfinanzministerium, denn er hat vor einem Zusammenbruch der Einnahmen aus der Körperschaftssteuer gewarnt. Ich habe das ganz blauäugig in der entscheidenden Sitzung der Staatssekretäre zum Besten gegeben. Dazu müsst Ihr wissen, dass bei Gesetzentwürfen immer die voraussichtlichen Kosten anzugeben sind. Ich habe also bestritten, dass die Angaben auf dem Gesetzentwurf zutreffend sind. Daraufhin bin ich von Steinmeier abgebürstet worden, während Zitzelsberger in seiner freundlichen Art (fehlte nur noch die Strickjacke und Pantoffel) nur meinte, er glaube eigentlich nicht, dass ich recht habe. Das sei ja auch nicht Sache des Forschungsministeriums. Womit er recht hatte. Und meine Intervention war im Grunde Blödsinn. Aber manchmal kann ich es einfach nicht lassen. Ein großer Fehler im politischen Geschäft. Steinmeier war ein treuer Diener seines Herrn. Wenn zwischen ihm und dem Bundeskanzler festgelegt worden war, was richtig und falsch war, hatten auch die besten Argumente keine Chance mehr. Das macht im Grunde auch Sinn, wenn man effektiv regieren will. Aber bedauert habe ich es trotzdem. Oft habe ich mir in der wöchentlichen Staatssekretärsrunde gewünscht, dass gründlicher diskutiert würde, auch über Ressortgrenzen hinweg. Wir waren in der Runde eigentlich nur drei böse Buben, die ab und zu Widerworte fanden.

Mit Finanzministem hatte ich öfter Probleme. Das fing schon in der Landespolitik an. Mit Hans Eichel, dem Bundesfinanzminister, hatte ich gemeinsam mit Edelgard Bulmahn ebenfalls ein Problem, welches dadurch verschärft wurde, dass in seiner Zeit die Ausgaben kräftig gekürzt werden mussten, um die sinkenden Einnahmen als Folge der Steuerreform zu kompensieren. Umso erboster war er, als er von den Plänen der Bundesforschungsministerin erfuhr, für junge Unternehmen Steuererleichterungen einzuführen und damit die Gründerszene zu beleben. Wir hatten uns einen HighTech-Masterplan überlegt und ein Element darin war es, die Wachstumsfinanzierung junger HighTech-Untemehmen steuerlich zu fördern. Unser Argument war, dass durch diese Maßnahmen nicht nur neue Arbeitsplätze entstünden, sondern auch die Steuereinnahmen nicht verringert, sondern erhöht würden. Das hat den Beamten im Bundesfinanzministerium leider nicht eingeleuchtet und so wurde dieses Kemelement unseres schönen Plans regelrecht hingerichtet, was ich heute noch bedauere. Die Niederlagen habe ich besser im Gedächtnis als die Siege, obwohl wir, so hoffe ich, öfter gesiegt als verloren haben. Aber vor allem aus Niederlagen kann man lernen.

Ich glaube, wir haben in diesem Ministerium über Jahrzehnte hinweg einiges dazu beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft so exportstark werden konnte, wie sie es heute tatsächlich ist. Aber das hat nicht immer funktioniert. Eine Niederlage will ich nun ausführlicher schildern, weil das Thema so bedeutsam ist und ein Licht auf das Funktionieren großer Unternehmen wirft. Sie handelt von der Elektromobilität, die inzwischen zwar in aller Munde ist, aber gleichwohl nicht so recht vorankommt. Eine gefährliche Perspektive für einen Schlüsselbereich der deutschen Exportwirtschaft, wobei die Gefahr erst richtig sichtbar wird, wenn es zu spät ist. Es begann damit, dass ich auf einer Japanreise den Prius gesehen habe, den Toyota bereits 1997 auf den Markt gebracht hat. Zwar glaubte ich nicht, dass auf die Dauer Elektroantriebe und klassische Antriebe auf der Basis von Verbrennungsmotoren sozusagen parallel im Auto eine große Zukunft hätten. Ich stellte mir vor, dass man Elektroautos bauen müsste, die für die Stadt ihre Energie aus Batterien beziehen und für längere Strecken einen Generator auf der Basis eines Verbrennungsmotors oder einer Brennstoffzelle an Bord haben müssten,  der die Batterien wieder aufladen kann, denn Batterien sind schwer und teuer. Und das werden sie trotz aller Fortschritte noch lange bleiben. Heute nennt man so etwas Range Extender. Dagegen kann man mit Elektroantrieben beim Bremsen oder Bergabfahren die Batterien wieder aufladen, was vor allem im Stadtverkehr wesentlich zur Sparsamkeit beiträgt.

Als Staatssekretär sollte man sich eigentlich nicht in die Durchführung einzelner Förderprogramme einmischen. Das ist Sache der Referatsleiter und sie lassen sich durch geeignete Gremien beraten. Ich habe mich jedoch mehrfach in das zuständige Beratungsgremium für Elektromobilität mit hineingesetzt, mich allerdings nicht ausreichend in die Zusammensetzung des Gremiums eingemischt. Das war wohl ein Fehler. Der Vorsitzende des Gremiums, welcher der deutschen Automobilindustrie eng verbunden war, hat nämlich genau vorgerechnet, dass das Konzept ein Unsinn ist und ein berühmter Kollege von der TH Aachen, Professor Pischinger, hat ihm leider damals nicht widersprochen. Andere haben widersprochen, aber ihre Stimme wurde nicht gehört. Ich bin dann zusammen mit dem zuständigen Referatsleiter zu den großen Automobilherstellern gefahren, um ihnen das Konzept schmackhaft zu machen. Aber die Resonanz war auch dort bescheiden. Es passte damals einfach nicht ins Konzept. Zwar gab es in der Forschungsabteilung von BMW schon Versuchsfahrzeuge, die ähnlich wie der Prius funktionierten. Aber als wir anschließend den Chef der Entwicklung dieses Unternehmens besuchten, ließ er ziemlich unverblümt durchblicken, dass daraus nichts werden würde. Eigentlich ist es eine Stärke des Forschungsministeriums, dass Fördermittel vorhanden sind, um neue Ideen voranzutreiben und dabei nicht auf eingefahrene Machtverhältnisse in Unternehmen Rücksicht genommen werden muss. Leider war der zuständige Referatsleiter nur halbherzig dazu bereit und hat damit eine große Chance versäumt. Sonst wären wir heute schon weiter. Ich fürchte, dass am Ende die Chinesen oder Südkoreaner beim Elektroauto für die breite Masse das Rennen machen werden, trotz der Stärke der deutschen Automobilindustrie. Aber das Ende der Geschichte werdet Ihr ja noch erleben.

Ich muss hier kurz zurückblicken, um deutlich zu machen, was ich mit eingefahrenen Machtverhältnissen in Unternehmen meine, nämlich auf die Zeit, als wir neue Nachrichtentechnologien gefördert haben. Ein Kollege aus meiner Gruppe, Klaus Rupf, war fest davon überzeugt, dass in absehbarer Zeit Mobiltelefone digital und nicht analog funktionieren würden. Der zuständige Referatsleiter im Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen war sich mit Siemens einig, dass das ein Unsinn ist. Herr Rupf hat daraufhin mit einer anderen Firma verhandelt und diese gefördert. Das war, glaube ich, im Jahr 1974. Es passte damals einfach nicht in das Geschäftskonzept von Siemens, frühzeitig auf digital umzuschalten und die Bundespost hat sich damals noch gern an Siemens orientiert. Es geht nicht so sehr darum, wer weiter in die Zukunft zu blicken vermag, die Manager der Wirtschaft oder die Leute im Ministerium. Man unterschätzt vielmehr das Beharrungsvermögen großer Unternehmen, wenn es um technische Umwälzungen geht. Auch bei Siemens gab es in der Forschung Leute, die an digitalen Lösungen arbeiteten. Aber sie saßen abseits in ihren Labors und fanden kein Gehör bei den Traditionalisten. Und deshalb sind ja auch junge Unternehmen so wichtig, eben weil sie ganz neuen Ideen zum Durchbruch verhelfen können, die in den Strukturen großer Unternehmen keine Chance haben.

Professor Pischinger hat mir vor kurzem einen Brief geschrieben, aus dem ich zitiere: „Das reine Batteriefahrzeug bietet sich auf Grund seiner derzeitigen Produkteigenschaften vorwiegend für den urbanen Einsatz an. Somit wäre die erste „Ausbaustufe“ die Ergänzung des batterieelektrischen Fahrzeuges um einen Range Extender Modul (REM). Hier bietet sich ein REM in serieller Bauform an, da sich das kompakte und sehr leichte REM frei im Fahrzeug positionieren, bei Bedarf auch optional angeboten werden kann und sich hervorragend in die Fahrzeugklimatisierung einbinden lässt.“ Genau das hatten wir vor zehn Jahren eigentlich vorgeschlagen, aber dann wegen der Widerstände in der Industrie leider nur halbherzig gefördert. Darüber ärgere ich mich immer noch.

Noch von einer weiteren Niederlage soll hier die Rede sein, dieses Mal nicht im Bereich der Forschung, sondern der Bildung, oder, wenn Ihr wollt, der Bildungsforschung. Es geht um das Thema Lernsoftware, also um interaktive Lehrbücher, die sich auf Lernfortschritte der Lernenden einzustellen in der Lage sind, indem  sie aktiv mit ihnen  kommunizieren.  Es  geht nicht  um  die Substitution der Lehrenden, sondern um eine sinnvolle Ergänzung durch Nutzung von Computern und Netzangeboten. Mit der Übernahme der Verantwortung im Bundesministerium für Bildung und Forschung konnten wir uns endlich diesem Thema zuwenden und jährlich zwischen 40 und 50 Millionen dafür bereitstellen, um Lernsoftware für Schulen, Hochschulen und für die berufliche Bildung zu entwickeln. Mir war von vornherein klar, dass das ein langer Weg werden würde. Aber ich habe auf eine Eigendynamik gesetzt, wenn erfolgreiche Angebote zeigen, welche Vorteile daraus erwachsen können. Dabei habe ich zwei Faktoren unterschätzt. Erstens gibt es in Deutschland viele Lehrer und Lehrerinnen, die den Einsatz von Lernsoftware als Bedrohung empfinden, einer davon war unser Parlamentarischer Staatssekretär im Ministerium Catenhusen, ein ehemaliger Lehrer. Zweitens aber, und das war das eigentliche Problem der Förderung: Wir haben uns nicht genügend mit dem Lernprozess selbst auseinandergesetzt. Es wäre wohl besser gewesen, statt direkt in die Entwicklung von Lernsoftware einzusteigen erst einmal die Lernprozessforschung konsequent zu fördern.

Gotthold Ephraim Lessing hat das Problem, um das es geht, vor Jahrhunderten schon wunderbar beschrieben, nämlich als er noch Bibliothekar in Wolfenbüttel war. Er sagt: „Ein Knabe, den man angewöhnet, alles, was er täglich zu seinem kleinen Wissen hinzulernt, mit dem, was er gestern bereits wusste, in der Geschwindigkeit zu vergleichen und achtzuhaben, ob er durch diese Vergleichung nicht von selbst auf Dinge kömmt, die ihm noch nicht gesagt worden… den man lehret, sich ebenso leicht von dem Besonderen zu dem Allgemeinen zu erheben, als von dem Allgemeinen zu dem Besonderen sich wieder herabzulassen, der wird ein Genie werden, oder man kann nichts auf der Welt werden.“ Es geht eben gerade nicht um das Nachschlagen oder Auswendiglernen von Wissen, sondern um das Begreifen von Sachverhalten. Und das ist ein komplizierter Prozess, den man nicht nur als Lehrender, sondern auch als Entwickler von Lernsoftware so gut es irgend geht verstehen sollte. Nun, das haben wir uns nicht ausreichend klar gemacht und deshalb verstarb der schöne Ansatz, als ich pensioniert wurde und die Kritiker des Lernens mit Hilfe des Computers Oberwasser bekamen. Keine Ahnung, wann das Thema in Deutschland mit der nötigen Intensität und Ausdauer wieder aufgegriffen werden wird. Das ist deshalb schade, weil Lernen auch etwas mit der Kultur eines Landes zu tun hat. Ich fände es ausgesprochen bedauerlich, wenn wir eines Tages die Lernsoftwareentwicklung entweder als rein kommerzielle Angelegenheit, etwa als Apps von Apple, wiederentdecken würden oder entsprechende Programme aus eher fremden Kulturen importieren müssten, weil wir uns nicht rechtzeitig mit dem Thema auseinandergesetzt haben.

Zur Abwechslung will ich doch von einem „Sieg“ berichten, wobei ich nicht sicher bin, ob Euch das erstens überhaupt interessiert, denn es ist eine komplizierte Geschichte, und zweitens, ob der „Sieg“ auch nachhaltig ist. Es geht um Wettbewerb und Kooperation in der Forschung und um Prioritäten für Investitionen in Forschung. Das BMBF investiert im Jahr 2012 fast 4 Milliarden Euro in die sogenannte institutionelle Forschungsförderung. Was ist damit gemeint? Nun, es gibt in Deutschland 4 große Forschungsorganisationen. Die größte davon ist die Helmholtzgemeinschaft HGF. In der HGF versammeln sich 15 Forschungszentren. Die Leiter dieser Forschungszentren versuchen, sich möglichst weitgehend von ihrem Geldgeber, dem Staat, abzukoppeln. Das ist aus ihrer Sicht verständlich. Aber es darf nicht so weit gehen, dass diese Forschungszentren sich einigeln und den Wettbewerb um knappe Fördermittel für überflüssig halten. Wie man diesen Wettbewerb am besten organisiert, ohne im Detail in das Management der Forschungszentren einzugreifen, dass ist eine komplizierte Angelegenheit. Edelgard Bulmahn und ich haben dann eine Reform durchgesetzt, die den Wettbewerb um Fördermittel innerhalb der HGF anheizen sollte. Und ich hatte das Vergnügen, auf Betriebsversammlungen diese Reform zu erläutern. Das gab jedes Mal einen ziemlichen Aufstand.

Einmal habe ich eines dieser Forschungszentren besucht und die Mitarbeiter hatten fürsorglich den Eingangsbereich mit Glasscherben versehen, um deutlich zu machen, was wir da anrichten. Inzwischen haben sie sich damit abgefunden und das ist ganz wesentlich dem damaligen Präsidenten der HGF, Professor Kröll, zu verdanken. Der wollte eigentlich gar nicht Präsident werden und ich erinnere mich, dass wir gemeinsam zwecks Überredung erst einmal eine Flasche Rotwein austrinken mussten. Ich glaube, am Ende hat es ihm Spaß gemacht.

Ihr habt nun viele Beispiele gelesen oder auch nur überflogen, die anschaulich machen sollten, wie Politik und Politiker funktionieren, wie sie denken und handeln. Dabei spielen zwar oft Zufälle eine bestimmende Rolle. Aber manchmal ist einfach die Zeit reif und dann bedarf es eines kleinen Auslösers, um große Veränderungen zu bewirken. Das will ich mit zwei Geschichten belegen. Bei der ersten habe ich gar keine Rolle gespielt. Bei der zweiten nur am Rande. Edelgard Bulmahn aber hat sich damit ein Denkmal gesetzt.

Die erste Geschichte handelt von einer grundlegenden Veränderung unserer Universitätslandschaft. Es begann mit einem SPD-Parteitag in Thüringen im Jahr 2004. Der damalige SPD-Generalsekretär Olaf Scholz, heute Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, hatte eine Idee. An einem Montag schlug er vor, in Deutschland eine Eliteuniversität zu gründen, die mit den besten in der Welt mithalten kann. Am Dienstag nahm Wolfgang Clement (inzwischen aus der SPD ausgetreten oder ausgetreten worden) den Ball auf und schlug in einer Pressekonferenz gleich drei Eliteuniversitäten vor. Das ließ die zuständige Bundesministerin Edelgard Bulmahn nicht ruhen und so gab sie am Mittwoch eine weitere Pressekonferenz, in der sie vorschlug, eine Exzellenzinitiative zu starten (sie mochte das Wort Elite nicht). Damit begann ein Wettbewerb, welcher die deutsche Universitätslandschaft grundlegend verändert hat. Die Universitäten konnten sich (gemeinsam mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen) darum bewerben, erhebliche zusätzliche Mittel vom Bund zu erhalten. Ohne hier in Einzelheiten zu gehen, ging es am Ende darum, dass einige Universitäten in Deutschland dadurch langfristig weltweit in der ersten Liga mitspielen können. Allein schon dieser Wettbewerb, aber auch die Kooperation mit der außeruniversitären Forschung, hat das Denken in den deutschen Universitäten nachhaltig verändert. Eigentlich ist die Finanzierung der Universitäten Ländersache, während in der außeruniversitären Forschung, die ich unter dem Stichwort institutionelle Forschungsförderung beschrieben habe, Bund und Länder gemeinsam finanzieren. Dieser Wettbewerb läuft derzeit immer noch und hat zu einer Qualitätsdifferenzierung unserer Hochschullandschaft geführt, die längst fällig war.

Die zweite Geschichte interessiert Euch möglicherweise ganz unmittelbar. Sie handelt vom Beginn einer Kampagne zur Etablierung von    Ganztagsschulen.    Begonnen    hatte    es    damit,    dass    ein Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt den Bundeskanzler Schröder überzeugt hat, dass der Bund, der ja eigentlich in der Finanzierung von Schulen nichts zu suchen hat, als Reaktion auf miserable PISA-Ergebnisse (schlagt unter PISA nach) Investitionen in Ganztagsschulen finanzieren sollte. Auf einmal hatte Edelgard Bulmahn ganz unverhofft und auf Weisung von oben dafür 4 Milliarden Euro von 2004 bis 2007 zur Verfügung. Das hat vielen Landesregierungen eigentlich nicht gepasst, nicht nur, weil sie die Folgekosten tragen mussten. Für viele Landesregierungen war es ein Ärgernis, dass sich der Bund überhaupt in ihre Schulkompetenz einmischen wollte. Und sie hatten darüber hinaus zum Teil auch ideologische Vorbehalte. Aber sie konnten es am Ende nicht verhindern. Der öffentliche Druck wurde zu groß. Ich erinnere mich an ein Vorbereitungsgespräch mit den Ländern, welches ich leiten durfte. Vor allem Bayern hat sich zunächst strikt geweigert mitzumachen. Mein Vorschlag, in die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern einen Absatz einzufügen, dass Ganztagsschulen zunächst vor allem in sozial schwierigen Regionen eingeführt werden sollten, konnten sie noch abschmettern mit dem Hinweis, darüber habe der Bund nicht zu bestimmen. Aber auch sie mussten am Ende klein beigeben und inzwischen ist nicht mehr umstritten, dass Deutschland langfristig und auf breiter Basis Ganztagsschulen einführen wird, sogar in Eurem Bundesland Bayern.

Zum Schluss will ich noch ein wenig von Erfahrungen bei Auslandsreisen berichten und fange mit Indien an. Merkwürdigerweise war Indien vor zehn Jahren in der Forschungszusammenarbeit mit Deutschland weitgehend ein blinder Fleck, obwohl schon damals die außerordentliche Kompetenz indischer Wissenschaftler und Techniker vor allem im Bereich Software und in der Raketentechnik erkennbar war, von ihrer Nuklearbewaffnung ganz abgesehen. Alle Welt reiste dauernd nach China und vernachlässigte Indien. Doch es gab gerade in Indien große Sympathien für Deutschland. Einige indische Spitzenuniversitäten wurden von Wissenschaftlern geführt, die in Deutschland studiert hatten. Der für Indien zuständige Referatsleiter des Ministeriums hatte mich überzeugt, dass diese Vernachlässigung ein Fehler sein könnte und so habe ich mich zusammen mit einigen Wissenschaftlern auf die Reise gemacht. Ich denke, dass wir einen guten Anfang gemacht haben, aber wir hatten auch ein Problem. Der damals im Amt befindliche Forschungsminister Indiens war ein Brahmane und er war auch, bevor er in die Politik ging, ein vorzüglicher Physiker gewesen, was mich eigentlich für ihn einnahm, denn ich mag Physiker in der Regierung. In seinem weißen Gewand und mit vielen goldenen Ringen an den Händen sah er genau so aus, wie man sich einen Mann aus der obersten Kaste der Brahmanen so vorstellt. Leider war er ein Rechtsradikaler und hatte deshalb sogar einige Jahre im Gefängnis verbringen dürfen. Vielleicht war er deshalb ein bisschen verdreht und das in Indien verbreitete Kastendenken hatte ein Übriges getan.

Bei einer großen Veranstaltung fing er auf einmal an, von der Überlegenheit der arischen Rasse zu reden, die zusammenhalten müsse. Der deutsche Botschafter saß in der ersten Reihe und grinste, denn er fragte sich, wie ich mich diplomatisch aus der Affäre ziehen würde. Ich habe zunächst auf Einstein verwiesen, der sich sehr für den jungen indischen Physiker Böse eingesetzt und mit ihm zusammengearbeitet habe. Das war dem Physiker natürlich bekannt, denn es gibt in Indien die sogenannte Bose-Einstein-Lecture und mir, genau wie ihm schon vorher einmal, war die Ehre zuteil geworden, auch so eine Lecture zu halten. Und dass Einstein kein „Arier“ war, hat er natürlich auch gewusst. Dann habe ich einfach nur gesagt, dass wir mit dem Thema Rasse in Deutschland ausgesprochen schlechte Erfahrungen gemacht hätten, was ihn vermutlich geärgert hat und ihn nach Deutschland eingeladen, worüber er sich offenkundig gefreut hat. Er hat dann tatsächlich Edelgard Bulmahn besucht, aber so richtig warm geworden sind sie nicht miteinander.

Noch eine weitere Erfahrung, die ich auf Auslandsreisen machen durfte, will ich zum Besten geben. Wir hatten im Ministerium einen Kollegen, der sich vor allem mit Wasserwirtschaft beschäftigt und aus irgendeinem Grund den Iran ins Herz geschlossen hatte. Er hat eine Reise vorbereitet, deren Ziel es war, deutsche Unternehmen der Wasserwirtschaft in Teheran ins Geschäft zu bringen. Der Bürgermeister von Teheran (mit Namen Ahmadinedschad) hatte eine Ausschreibung zur Modernisierung der Wasserversorgung der Hauptstadt auf den Weg gebracht. Und jetzt folgt eine abenteuerliche Geschichte. Mein Hauptgesprächspartner war der Staatssekretär im Ministerium für Wasserwirtschaft. Er hatte am MIT in Boston Kerntechnik studiert und machte einen überaus intelligenten Eindruck. Zeitweilig war er für das erste iranische Kernkraftwerk verantwortlich, dessen Bau zunächst von Siemens begonnen worden war. Er war aber auch mit allen Wassern gewaschen. Bei ihm habe ich gelernt, was ein persischer Basar ist. Er wollte unbedingt Zusagen für eine günstige Finanzierung von Projekten mit Deutschland herausholen und nahm dafür in Kauf, dass das iranische Femsehen einige Stunden auf die Unterzeichnung eines Kooperationsvertrags warten musste. Ich hatte dafür wenig Spielraum und am Ende hat er dann nachgegeben.

Das ist aber noch nicht die abenteuerliche Geschichte. Sie begann damit, dass der deutsche Botschafter in Teheran, der ein sehr differenziertes Bild des Landes zeichnete, darauf drängte, dass wir in den Kooperationsvertrag auch eine deutsch-iranische Zusammenarbeit beim Wiederaufbau von Afghanistan einbauen sollten, das ja eine lange und ziemlich durchlässige Grenze mit dem Iran hat. Der schiitische Iran habe mit den sunnitischen Taliban wenig am Hut, denn sie haben die schiitische Minderheit in Afghanistan gnadenlos verfolgt, meinte der Botschafter. Aber der Iran wolle dazu beitragen, dass dort ein dauerhafter Frieden möglich wird und Deutschland könne dabei helfen. Tatsächlich haben wir nach Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt einen entsprechenden Passus in den Kooperationsvertrag aufgenommen, der eine deutsch-iranische Zusammenarbeit beim Wiederaufbau dieses geschundenen Landes vorsah. Genützt hat es bekanntlich nichts, denn bald darauf wurde die iranische Politik immer stärker von religiösen Fanatikern bestimmt.

Um das differenzierte Bild etwas weiter auszumalen, will ich noch von einem Besuch im Teheraner Wasserwirtschaftslabor berichten. So ein Labor hat in einer Großstadt sehr viel Verantwortung und beschäftigt eine größere Zahl von Wissenschaftlern und Technikern. Wir wurden von dem Leiter des Labors begrüßt. Das war aber kein Leiter, sondern eine Leiterin. Sie hatte an der Universität in Illinois studiert, trug Kopftuch und machte einen höchst kompetenten und energischen Eindruck. Sie stellte uns ihre Abteilungsleiter vor, die durchweg Frauen waren. Einige Männer standen im Hintergrund und hatten offenkundig wenig zu sagen. Das ist in den weniger rückständigen islamischen Ländern keine Seltenheit. Warum, das will ich am Beispiel von Indonesien noch kurz beschreiben. Denn bei einer Reise nach Indonesien ist mir das Phänomen wieder begegnet. Indonesien wurde damals von einer Frau regiert, was allein schon bemerkenswert ist. Aber das war ja auch in Pakistan der Fall gewesen.

Wir haben in Indonesien eine der besten Universitäten des Landes besucht. Zwar waren die Professoren fast durchgängig Männer, ziemlich alte Männer. Aber der auch anwesende Mittelbau, wie man in Deutschland sagt, war fast ausschließlich weiblich. Uns wurde erzählt, dass die besten Absolventen in den Natur- und Ingenieurswissenschaften Frauen seien. Sie würden in Zukunft das wissenschaftliche Schicksal des Landes entscheidend prägen. Das muss man sich einmal klar machen. Während in Deutschland in diesen Fächern Frauen immer noch mit klarem Abstand in der Minderheit sind, wählen in den weniger rückständigen islamischen Ländern gerade Frauen diese Studienrichtungen. Gesellschaften sind eben doch oft sehr viel komplexer, als die Vorurteile gegenüber der islamischen Welt uns suggerieren. Und wenn der Geist erst einmal aus der Flasche ist, wird es schwer sein, ihn wieder zurück zu verbannen. Mit den Frauen ist noch zu rechnen. Leider verstellt uns der islamisch geprägte Terror immer wieder den Blick auf die Wirklichkeit und die alten Mullahs mit ihrem reaktionären Frauenbild tragen dazu bei. Die Frauen werden sie eines Tages aus dem Sattel heben und den Islam verwandeln. Das ist meine feste Überzeugung und nicht auf den Islam beschränkt. Nur wird es dort vielleicht schneller gehen als bei uns.

13. Fazit

Möglicherweise habe ich im Eifer des Gefechts und als Opfer von Prunksucht und Eitelkeit zu viel von mir erzählt. Und sowieso ist klar, dass meine Kenntnis von Politik aus erster Hand große Lücken aufweist. Meine Generation war die erste in Deutschland, die mehr als ein halbes Jahrhundert leben durfte, ohne wirkliche Not und das Töten von Menschen im Krieg zu erleiden. Möge es Euch auch so gehen. Europa ist im Grunde auf der Welt eine Insel des Friedens geworden. Einige der in diesen Notizen beschriebenen Politiker haben den Krieg noch kennengelernt und das hat sie geprägt. Sie wussten, das Frieden keine Selbstverständlichkeit ist, weder der innere noch der äußere Frieden. Daran möchte ich zum Schluss erinnern. Wenn ich etwas hasse, dann sind es Fanatiker, die meinen, sie müssten anderen Menschen ihren Lebensstil aufzwingen. Und wenn ich etwas liebe, dann Menschen, die nicht nur für sich, sondern auch für andere da sind. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind das Beste, was den Menschen je eingefallen ist.

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